Blutschwestern
zu warten. Als er die Schritte der Dienerin auf dem Gang vor seiner Tür verhallen hörte, als die letzten
Feuerbecken im Haus gelöscht waren, erhob er sich, nahm seinen Beutel und öffnete leise die Tür. Er trat hinaus in den Garten
und durchquerte ihn zügig. Die Luft war mild und warm, und er spürte augenblicklich, wie sein Herz begann, sich frei zu fühlen.
Den Hügel rannte er hinab und hielt sich in der Tempelstadt im Schatten der Bäume.
Fort, nur fort von hier
, dachte Degan aufgeregt.
Ich bin frei, niemals mehr werden sie mir sagen, was ich tun soll und wie ich sein muss!
In der Unterstadt waren noch einige Engilianer unterwegs, und als er Braam erkannte, der volltrunken mit einem Mädchen im
Arm aus einer Schenke torkelte, kauerte er sich hinter einen Brunnen, bis Braam mit seiner Eroberung in den Büschen verschwunden
war. |347| Degan sandte ihm im Stillen einen Fluch hinterher. Dann endlich wurde sein Herz ruhig. Er überquerte die Brücke, die über
den Sandfluss führte, und ging unbehelligt mit gesenktem Kopf vor den Wachen durch das Tor.
Diese Narren interessiert es nicht, wer Engil verlässt, sie achten nur auf jene, die hineingelangen wollen
, dachte er verächtlich.
Mit langsamen Schritten verschwand er im Dunkel der Nacht, und dann endlich war er wirklich frei, so frei, wie er es niemals
gewesen war. Er gehörte nicht mehr zu ihnen, er gehörte nicht mehr nach Engil. Er würde Xiria suchen, und er würde sie finden
– das schwor er bei Salas verdammtem Licht.
|348| Lins Ehre
Lin stieß aufgebracht die Pforte des Tempels auf und rannte die wenigen Stufen bis zum Tempelplatz. Erst als sie die Blicke
der Engilianer bemerkte, die verängstigt und erschrocken beobachteten, wie Salas Hohepriesterin aufgelöst aus dem Tempel stürzte,
zwang sie sich zur Mäßigung. Ihr Herz schlug nach wie vor schnell und hart gegen ihre Rippen, doch sie straffte ihre Schultern
und verbarg ihre Angst hinter einer lächelnden Miene. Sie durfte sich nicht derart gehen lassen, egal, wie aufgebracht sie
war. Noch immer fiel es ihr schwer, ihre Gefühle hinter der Maske der weisen Hohepriesterin zu verbergen. Liandra hätte nicht
sterben dürfen. Die Last auf ihren Schultern war zu groß, und vielleicht spürte Sala dies alles und weigerte sich aus diesem
Grund, mit Lin zu sprechen.
Lin war froh, als sie den Fuß des Hügels erreichte, der zu Ilanas und Tojars Haus führte, und somit den neugierigen und beunruhigten
Blicken der Engilianer zu entschwinden. Obwohl nichts aus dem Königshaus an ihre Ohren drang, spürten die Bewohner von Engil
die schwelende Unruhe, und Gerüchte verbreiteten sich in Windeseile. Wo war der Prinz von Engil, warum hatte man ihn seit
Liandras Grablegung nicht mehr gesehen? Wer hatte die Hohepriesterin getötet, und war es nicht ein dunkles Omen, dass sie
einen gewaltsamen Tod erlitten hatte? Noch wurden diese Fragen von Ohr zu Ohr geflüstert. Doch schon bald würden sie lauter
werden, ängstlicher, zorniger und verzweifelter. Dann würden Engilianer kommen, den Hügel hinauf, die Namen Ilanas und Tojars
auf den Lippen, und würden nach Antworten verlangen. Lin graute es vor diesem Tag. Als die Dienerin vollkommen außer Atem
in |349| den Tempel gestürzt war und unter den besorgten Blicken der Priesterinnen in Lins Ohr geflüstert hatte, was nur für ihre Ohren
bestimmt gewesen war, hatte sie gewusst, dass der Tag nicht mehr fern war.
Degan ist verschwunden
, hatten die Worte des Mädchens gelautet. Lin war zusammengezuckt. Sie hätte sich besser beherrschen müssen, hätte nicht alles
stehen und liegen lassen sollen und der Dienerin folgen; doch es war geschehen.
Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihrem Gesicht, als sie den Hügel hinaufging. Hinter ihrer Stirn begann es zu pochen, doch
sie verlangsamte kaum ihre Schritte.
Oh, Degan, das kannst du mir doch nicht antun!
flehte ihr Verstand vollkommen aufgelöst, während sie durch den Garten des Hauses lief. Sie hätten ihn nicht derart bedrängen
dürfen, Nona hätte sich ihm nicht zeigen sollen. Nun hatten sie Degan vielleicht für immer verloren.
Mit einem Nicken grüßte Lin eine der Dienerinnen und fing einen verzweifelten Blick des Mädchens auf. Sie verdrängte die aufkommende
Eifersucht, denn sie wusste, dass das Mädchen eine Zeitlang Degans Bettgefährtin gewesen war. Wenigstens besaß sie eine Erinnerung
an ihn! Lin schalt sich selber. Ihre Gedanken waren dumm und unreif.
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