Blutschwestern
hatten die Waldfrauen sich den Kräften der
Erde zugewandt. Trotzdem gehörte der Himmel noch immer untrennbar zur Erde, und auch wenn sie sich nicht berührten, so bildeten
sie eine Einheit.
Die beiden Alten sahen auf, sie kannten nicht nur die Lalu-Frauen, sie hatten besonders diese eine, die ihnen einst das Dach
ihrer Hütte ausgebessert hatte, in guter Erinnerung.
»Dem Ruf von Salas Töchtern folgt, doch spröd sind wir wie altes Holz. Der junge Greif, er muss verweilen, nur wenn er lebt,
können wir heilen.«
Nona bedankte sich bei den beiden Alten und stob zurück zu Dawon, der mittlerweile zu zittern begonnen hatte. Wieviel Blut
hatte ihr Gefährte bereits verloren? Sein Körper war stärker und kräftiger als der eines Menschen, doch es würde Tage dauern,
bis die Waldfrauen bei ihm waren.
»Dawon«, sprach sie ihn deshalb sanft und eindringlich an. »Du musst nun kämpfen. Die Waldfrauen werden kommen, aber du musst
leben, wenn sie eintreffen.«
Er sah sie aus müden, doch entschlossenen Augen an. »Dawon verspricht es. Er hat geschworen, Nona nie allein zu lassen.«
In diesem Augenblick wünschte sie sich schmerzlich ihren menschlichen Körper zurück, um ihn berühren und lieben zu können,
wie sie es einst getan hatte. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Da won , wirst du es schaffen, zum See zurückzukehren und dort auf die Waldfrauen zu warten?«
Er nickte tapfer und zog sich bereits hoch. Hätte sie doch nur ein Tuch besessen, um die Wunde zu verbinden. Sie zwang sich,
die |334| Reste ihrer aufkeimenden menschlichen Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit nicht zu stark werden zu lassen. Sie würden Dawon
nun auch nicht helfen, ihn vielmehr verunsichern. Er würde es schaffen, Dawon war stark. Beinahe gleichzeitig regte sich eine
andere Sorge in ihr. Wer war die Greifin, von der Dawon gesprochen hatte, und was bedeutete ihr Auftauchen? Nona ahnte, dass
ihr nichts anderes übrigblieb, als es selbst herauszufinden. Sie musste zurückkehren, zurückkehren zu jenen, die sie einst
hatte verlassen müssen, als sie sich für Dawon entschieden hatte.
»Dawon, ich muss nach Engil gehen. Ich muss wissen, woher sie kommt und weshalb es sie gibt.«
Er sah sie bestürzt an. »Dawon hat sie Worte gelehrt, aber er hat nicht einmal daran gedacht, sie zu fragen, woher sie kam.
Vielleicht war das der Fehler, den Dawon begangen hat.« Seine Augen wurden traurig. »Dawon war niemals so klug wie Nona.«
»Nein, Dawon, das hat nichts mit Klugheit zu tun. Dein Herz besaß nur niemals Misstrauen und Boshaftigkeit … und ich danke
Sala dafür.«
Etwas erleichterter lächelte er sie an. »Dawon wird leben – für Nona … er wird es versuchen.«
Mit einer letzten hauchzarten Berührung seiner Schulter erhob sie sich schließlich, obwohl es ihr schwerfiel. So lange waren
sie sich selber genug gewesen. Doch die Zeit war gekommen, Engil zu helfen. Es hatte wieder begonnen: Muruk erstarkte.
Ilana saß neben Lin in ihren Gemächern und war bemüht, ihre Tochter zu trösten. Es war zuviel für Lins sanftes Gemüt gewesen.
Sala sprach nicht zu ihr, obwohl sie ihre Hohepriesterin war, und Degan hatte sich von ihr und allen anderen abgewandt. Lin
hatte bitterliche Tränen vergossen, doch was immer sie auch versuchte – es schien ihr zu misslingen. Seufzend fuhr sie über
Lins Haar. Mittlerweile hatte sie aufgehört zu weinen und starrte nur noch schweigsam in Richtung der Fensteröffnung.
|335| »Sala wird zu dir sprechen, Tochter«, versuchte Ilana sie aufzumuntern.
»Sala lehnt mich ab, ebenso wie Degan mich ablehnt«, erwiderte Lin leise. »Vielleicht bin ich nicht zur Hohepriesterin bestimmt,
ja, vielleicht ist es mir nicht bestimmt, dereinst Engils Königin zu sein. Ich bin nicht so stark wie du, Mutter.«
»Das ist Unsinn, Lin! Du bist noch sehr jung.«
»Das warst du auch«, gab sie trotzig zurück.
Ilana suchte verzweifelt nach Argumenten, mit denen sie die düstere Stimmung ihrer Tochter durchbrechen konnte. »Ich hatte
Tojar an meiner Seite. Ohne ihn …« Sie hielt inne, da sie bemerkte, dass sie sich um Kopf und Kragen redete.
»Degan hätte an meiner Seite sein sollen. Doch er hat sich verändert. Ich kenne ihn nicht mehr … vielleicht habe ich ihn niemals
gekannt. Ich war so dumm zu glauben, dass er mich lieben könnte.«
»Lin, Degan ist nicht er selbst. Diese Greifin, wer immer sie ist
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