Blutschwestern
Wie viel schlimmer wäre es ihr wohl ums Herz gewesen,
wenn Degan sie vor seinem Verschwinden noch auf sein Lager geholt hätte … Hoffnungen in ihr geweckt hätte, die sie nicht hegen
durfte? Lin betrat das Haupthaus und atmete tief durch. Hier war es kühler, und die Enge um ihre Brust löste sich etwas.
Eine andere Dienerin trat zu ihr und zupfte sie am Ärmel. »Her rin , Tojar will dich sehen.«
Lin nickte und wollte sich bereits auf den Weg zu Tojars und Ilanas Räumen machen, doch die Dienerin hielt sie am Arm fest.
»Nein, Herrin, nicht in seinen Räumen!« Sie wies auf eine große schlichte Tür aus fast weißem Bellockholz, die der ganze Stolz
ihres Vaters war. Vor einigen Jahresumläufen war ein Blitz in einen der Bellockbäume im Isnalwald gefahren und hatte ihn gefällt. |350| Tojar hatte aus nur einem einzigen Ast eine neue Tür für die Empfangshalle fertigen lassen.
Lin seufzte. Wenn ihr Vater sie in den Empfangsraum rief, war er nicht alleine. »Wer ist bei ihm?«, fragte sie und fühlte
ihre Hände kalt werden, als das Mädchen versuchte, ihrem Blick auszuweichen. »Sag es mir!«
Das Mädchen sah sie endlich an. »Braam und sein Vater«, kam ihr die Antwort ängstlich über die Lippen.
Lin bedankte sich bei der Dienerin und straffte die Schultern. Braam! Sie mochte ihn nicht, weder ihn noch seinen Vater, der
dem Sohn an Ehrgeiz in nichts nachstand. Degan hatte ihn ebenfalls nie gemocht, und seine Menschenkenntnis war richtig gewesen.
Warum waren die beiden hier? Hatte Tojar ihnen etwa von Degans Verschwinden erzählt? Und warum hatte ihre Mutter es nicht
verhindert! Immerhin galt die Königin noch immer mehr in Engil als der König. Tojar hätte ohne Ilana niemals König von Engil
werden können, ebenso wie Degan ohne Lin nicht den Thron hätte besteigen dürfen.
Unwillig trat Lin auf die große Tür zu und legte ein Ohr daran. Natürlich drang kein Laut durch das dicke Holz. Schließlich
stieß sie die Tür so kraftvoll auf, wie sie es vermochte. Wenigstens wollte sie nicht als ängstliches, beunruhigtes Etwas
vor ihren Vater und seine Besucher treten. Vielleicht wussten sie ja überhaupt nichts von Degans Verschwinden.
Als sie in die ernsten Gesichter von Tojar, Braam und seinem Vater blickte, zerfielen ihre Hoffnungen jedoch wie kindliche
Traumgespinste.
»Lin, wie gut, dass du gleich erschienen bist«, sagte ihr Vater. »Du hast es bereits erfahren?«
Lin nickte Braam und seinem Vater zu und wandte sich dann schnell wieder an Tojar. »Ja, Vater! Die Dienerin kam in den Tempel
und sagte es mir.«
Tojar nickte und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Sein |351| schweres langes Gewand in den tiefgrünen Farben des Isnalwaldes passte zu seiner dunklen Stimmung. Er vermied es, Lin in die
Augen zu schauen. Wie um Zeit zu gewinnen, bot er Lin einen Stuhl am großen Tisch der Halle an und bat auch seine Gäste, Platz
zu nehmen. Lins nackte Füße klatschten auf den geschrubbten Steinboden. Es war ihr peinlich, doch im Tempel Salas wurde kein
Schuhwerk getragen, und sie war so aufgebracht gewesen, dass sie vergessen hatte, ihre Sandalen anzuziehen, als sie aus dem
Tempel gestürmt war.
Braam betrachtete ihre nackten Füße. Ein kurzes Zucken ging um seine Mundwinkel. Er hatte begriffen, dass Lin nicht so gefasst
war, wie sie vorgab.
»Wir müssen nun an Engil und die Menschen denken«, begann Tojar vorsichtig zu sprechen, als sie alle am Tisch saßen. »Der
Verlust Degans ist schmerzlich … vor allem für dich, Lin.« Er legte, wie um sie zu beschützen, seine große Hand auf ihre,
und sie stellte das erste Mal in ihrem Leben fest, dass die Hand ihres Vaters ihr weder Trost noch Sicherheit schenkte.
»Was willst du mir sagen, Vater? Und weshalb sind Braam und sein Vater hier?« Sie sah unsicher zu Braam hinüber, der in seinen
Beinkleidern, dem Hemd und seinem Waffengürtel aussah, als wäre er gerade vom Kampfübungsplatz gekommen. Sein Vater hatte
seine Talukart niemals ganz ablegen können. Wie sein Sohn trug er Beinkleider, Hemd und sein Haar nach Art der Taluk rückenlang.
Seine Augen waren die eines Raubvogels, klein und starr, und seine Gesichtszüge waren derb, die Haut war von der Sonne gefurcht
und gebräunt. Er war ein Krieger, gleichgültig, was er zu sein vorgab … und er schätzte Frauen nicht besonders, wenn sie nicht
auf dem Lager eines Mannes oder an einem Kochfeuer saßen. Lin spürte die Abneigung, die er ihr
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