Blutschwestern
begann ihn abermals fortzuziehen, es forderte ihn auf, weiter zu suchen nach jener, die ihm so sehr
glich in ihrer Einsamkeit. Seufzend ließ er sich ins noch feuchte Gras fallen und genoss den Morgentau, der die Hitze seines
Körpers und seines Geistes etwas abzukühlen vermochte. Sein Vater hatte Nona, Ilana hatte Tojar – doch er war allein. Lin
hätte die Leidenschaft seiner Gedanken und seines Begehrens niemals teilen können. Er schloss die Augen und dachte an Xiria.
Ein einziger Augenblick hatte genügt, um sein Herz an sie zu fesseln und alles andere auszulöschen. Wo war sie? Wie ein Feuer
ergriffen das wohlbekannte Verlangen und das tiefe Sehnen nach ihr immer stärker Besitz von ihm.
Schließlich sprang Degan auf, als wäre der Blitz neben ihm eingeschlagen. Schnellen Schrittes ging er zurück in die Hütte
und begann seinen Beutel zu schnüren. Dawon und die Waldfrauen sahen ihm stumm dabei zu.
»Wohin will Degan gehen?«, fragte Dawon verständnislos, als dieser sich den Beutel über die Schulter warf.
»Ich muss sie finden, Vater«, bekannte Degan fast entschuldigend. |375| »Sie ist nicht böse, sie hat nur nichts Gutes erfahren. Xiria gehört zu mir! Ich kann sie lehren, ihre Gefühle zu lenken und
zu verstehen.«
Dawon sah ihn mit dem schreckensbleichen Gesicht eines Kindes an, die Alten schnalzten missbilligend mit der Zunge. »Zu heiß
sein Blut, ihr Herz wie Eis, das wird gebären großes Leid«, versuchten sie ihn mit ihren meckernden Stimmen zu warnen, doch
Degan hörte nicht auf sie.
»Es tut mir leid, Vater«, sagte er noch einmal, an Dawon gewandt. Mit Blick auf die Waldfrauen fragte er: »Wisst ihr, wo ich
Xiria finden kann?«
Die beiden Alten antworteten nicht, funkelten ihn jedoch düster an. Dann ließ sich eine der beiden zu einer Antwort herab.
»Wo immer Blut, wo immer Leid, dort findest du dein Greifenweib!«
Degan verzichtete darauf, sich bei ihnen für die nutzlose und boshafte Auskunft zu bedanken. Sie verstanden ihn ebenso wenig
wie alle anderen. Er musste seinen eigenen Weg gehen. Mit einem letzten Blick auf Dawon, dessen Augen nun unverhohlen ihre
Traurigkeit kundtaten, verließ er die Hütte und widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Er musste weiter suchen, er musste
Xiria finden. Es war sicherlich nicht zu spät, das Gute in ihr zu wecken.
|376| Xirias Gefährte
Erst als die letzte Gegenwehr unter dem Silbernetz erstarb, erwachte ihre Sippe aus ihrem Blutrausch. Xiria befand es beinahe
als seltsam, denn eigentlich war überhaupt kein Blut geflossen. Diese Menschinnen waren anders als die anderen. Helles Licht
war hinauf in den Himmel gestiegen und dann hinter den Wolken verschwunden, wenn ein Körper wie ein Wassertropfen zerplatzt
war. Nichts blieb von ihnen übrig, kein Fleisch und kein Blut. Es war einfach, als wären sie niemals da gewesen.
Xiria sah sich um. Sie waren nun alle fort, doch die Kette, nach der Mador suchte, hatten sie nirgends gefunden. Eine, die
Xiria entgegengetreten war, hatte gesagt, dass sie eine große Zauberin sei. Xiria hatte ihr befohlen, irgendetwas zu tun,
was sie erfreute, doch die andere hatte sich geweigert.
Du tust Unrecht, Xiria
, hatte sie stattdessen ihre Stimme in ihrem Kopf erklingen lassen. Xiria hatte ihr gesagt, dass sie aufhören solle, in ihrem
Kopf zu sein, doch das hatte die Lalu-Zauberin nicht beeindruckt. Statt aus ihrem Kopf zu gehen, hatte sie weiter dort gesprochen.
Das, was du suchst, ist nicht mehr hier. Ich habe es fortbringen lassen.
»Geh aus Xirias Kopf!«, hatte Xiria, nun wütend geworden, ihr laut befohlen, und die andere hatte gelächelt … hatte sie ausgelacht!
Als Xiria ihre Klauen in die Zauberin hieb, war sie einfach wie die anderen verschwunden – und noch immer hatte sie gelächelt,
als hätte Xiria ihr einen Gefallen getan. Was sollte das schon für eine Zauberin sein, die so wenig Macht besaß? Xiria war
mächtiger, denn sie hatte sie alle vernichtet.
Die Greife hatten, wie befohlen, eine der Lalu-Frauen am Leben |377| gelassen. Die durchscheinenden Augen blickten unter dem Silbernetz hervor. Gleich einem Kind hockte sie zusammengekauert vor
ihnen und wartete auf ihr Ende. Xiria ging vor ihr in die Hocke und betrachtete das fast kindlich anmutende Wesen, dessen
Augen sie sosehr faszinierten.
»Bist du Nona, die Lalu-Frau?«, fragte sie, doch das Wesen schüttelte den Kopf, wobei das Silbernetz klirrte. Xiria langte
durch das Netz hindurch an
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