Blutschwestern
Mut zusammen und sagte:
» Belis nani,
weise Frau. Ich bin ein Wanderer, der Zuflucht für die Nacht sucht und etwas Warmes zu essen. Habt Ihr vielleicht noch einen
Platz in Eurer Hütte am Feuer?«
Die Alte machte zuerst keine Anstalten, ihm zu antworten, |368| vielmehr schien es Degan, als würde sie sehr genau wissen, wer er war, und als überlege sie, ob sie ihn einlassen sollte.
Schließlich öffnete sie die Tür. Entgegen ihrer natürlichen Art, in Reimen zu sprechen, antwortete sie: »Tritt ein, junger
Reisender. Wir haben einen weiteren Gast, aber für dich ist noch ein Platz an unserem Feuer frei.«
Degan schob sich durch die Tür der Hütte und musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Das Innere
wurde nur vom Licht des Kochfeuers erleuchtet, von der Decke hingen getrocknete Kräuter, die einen angenehm würzigen Geruch
verströmten und sich mit dem Duft des Schmorfleisches vermischten. Die Hütte war eigentlich fast zu klein für zwei Menschen,
die hier lebten. In der Ecke entdeckte Degan eine zweite Alte, die über eine Lagerstatt gebeugt war, auf der jemand lag. Dies,
so dachte Degan, musste der andere Gast sein, der vor der Nacht hier Zuflucht gesucht hatte. Er schien jedoch krank zu sein,
denn die Alte flößte ihm behutsam einen Trunk aus einer kleinen Tonschüssel ein.
Degan bemühte sich leise zu sein, als er seinen Beutel abstellte und sich auf ein Fell vor das Feuer setzte. Die Flammen knisterten
einladend, und er hielt seine Hände vor das Feuer, um sie zu wärmen. »Was ist geschehen? Ist Euer Gast krank?«, fragte Degan
mehr aus Höflichkeit und um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Die Waldfrau, die ihm die Tür geöffnet hatte, gab ihm eine dampfende Schale mit Schmorfleisch und antwortete: »Böses Omen,
böser Geist, trieb Klaue tief in jenen Greif. Die Wunde mögen wir wohl heilen, sein Herz jedoch will nicht verweilen.«
Degan spürte, wie Hitze in seinen Körper schoss. Obwohl die Waldfrauen in seltsamen Reimen und Rätseln sprachen, ahnte er
bei ihren Worten, wer dort unter den Fellen lag und mit dem Tode kämpfte; und die Waldfrauen wussten, wer Degan war! Er fühlte
Widerwillen in sich aufkommen; seine Mutter hatte er bereits kennengelernt. Sie war ihm fremd. Dort auf dem Lager lag der
andere Teil seiner Vergangenheit.
|369| Kurzentschlossen stellte Degan die dampfende Schale auf den Boden und erhob sich. Er verdammte seine Neugierde, doch die Alte,
die sich um den Kranken kümmerte, machte bereitwillig Platz. Degan beugte sich über das Lager und erblickte überrascht ein
jugendliches Gesicht, das kaum älter aussah als sein eigenes. Dawon, der Greif, schlief. Degan entdeckte den tiefen Riss auf
seiner Brust. Unwillkürlich spürte er Schmerz in seinem Herzen. Er wusste, wer dem Greif die Verletzung zugefügt hatte; Nona
hatte es ihm erzählt. Alles in ihm begann zu kämpfen. Er brauchte Xiria, er wusste, weshalb sie es getan hatte, er kannte
diesen fremden seltsamen Greif mit dem dunklen Haar und den dunklen Schwingen nicht, gleichgültig, was Nona behauptete. Warum
sollte er sich darum scheren, dass der Greif starb? Und doch wollte sich nicht die gleiche Kühle einstellen, welche er seiner
leiblichen Mutter gegenüber empfand. Der dort um sein Leben kämpfte, war sein Vater! Vage erinnerte sich Degan an die Träume,
die er als Kind gehabt hatte, von jenem Greif, der in seiner Fensteröffnung gesessen und ihn beobachtet hatte.
Seine Hand zitterte, als er vorsichtig das Gesicht Dawons berührte. Die Haut war warm, sie glühte beinahe, und bei der ersten
Berührung öffnete Dawon die Augen, und Degan wusste, dass er damals als Kind nicht geträumt hatte.
»Vater!«, sagte er leise, und auf Dawons Gesicht zeigte sich ein freundliches Lächeln. Sie sahen sich an, ohne dass sie weitere
Worte sprechen mussten. Degan fühlte sein Greifenblut heiß durch seine Adern pulsieren. So wenig wie er Nona hatte spüren
können, sosehr fühlte er das Band zu seinem Vater. Er hatte ihn hassen wollen, doch er wusste in diesem Augenblick, dass er
es nicht konnte.
Xiria erhob sich in den Himmel, der üppige Silberschmuck funkelte, als die ersten Sonnenstrahlen auf ihn fielen. Unter ihr
standen sie, Schwinge an Schwinge, so viele, mehr, als Hände sie hätten zählen können. Sie waren ihre Sippe, sie waren ihr
Blut … sie mussten ihr gehorchen!
|370| »Xiria ist nun euer Anführer. Mador hat es
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