Blutschwestern
er soll die Prophezeiung Salas erfüllen … kein Mensch,
kein Greif, kein König kann Muruk vernichten … aber er ist weder Mensch noch Greif, noch ist er ein König. Und nun ist er
hier in Dungun, und dieses Greifenweib stellt ihn unter meinen Schutz.
Madors Gedanken überschlugen sich, er musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Er dachte an den König von Engil und
seine Königin. Tojar! Einst waren sie von einer Sippe gewesen, vom stolzen Volk der Taluk. Obwohl Mador seinem Schwur, den
er Muruk geleistet hatte, die größte Wichtigkeit zugestand, hatte er sich oft vorgestellt, wie mit Engil auch Tojar fallen
würde.
Ruckartig wandte sich Mador zu Xiria um. Die Greifin betrachtete ihn forschend. Ahnte sie etwas von seinen Gedanken? Wusste |394| sie, was er wusste? Mador ertastete die unterschiedlichsten Gefühle, welche sie ihm entgegenbrachte … Verachtung, Geringschätzung,
Ablehnung. Nein, sie wusste nichts von alldem. Xirias Geist strebte lediglich nach der Befriedigung eigener Bedürfnisse.
»Er kann hier bleiben«, stellte Mador schließlich betont gelangweilt klar. »Aber ich will die Kette! Du wirst sie mir bringen!«
»Wenn Mador Xiria sagt, wo sie die Kette finden kann, wird Xiria sie ihm bringen.«
Ihre Augen maßen sich; obwohl die Greifin kaum komplexe Zusammenhänge verstand, hielt sie sich für überlegen und mächtig.
Leider, so dachte Mador, war sie es in gewisser Weise auch. Doch das konnte sich sehr schnell ändern. Wenn Salas Licht zerstört,
der Prophezeite tot und die letzte Lalu-Frau ausgelöscht war, wenn Muruk der unumstrittene Gott in Dungun und Engil wäre,
dann wäre auch diese Greifin nicht mehr als Getier unter seinem Fuß. Aber bis dahin brauchte er sie und ihr Greifenheer. Er
hatte sie für nützlich gehalten, da sie so anders war als die anderen Greife. Muruk hatte ihm befohlen, sie zu zähmen, doch
letztendlich musste er einsehen, dass Injamon leichter zu kontrollieren gewesen war. Sie hatte ihm jedoch Degan gebracht und
die Lalu-Frauen vernichtet. Nun musste er sich mit ihr vorerst arrangieren. Sie würde die Kette finden sowie die letzte Lalu-Frau,
sie musste dafür sorgen, dass die Greife ihm auch weiterhin dienten. Danach konnte er Xiria getrost beseitigen, sie und ihren
Gefährten. Doch nicht jetzt! Noch musste die Greifin ihm vertrauen!
»Ich werde herausfinden, wo die Kette ist, Xiria. Und dann wirst du sie mir bringen!«
Sie nickte, ohne zu antworten. Es war ein Handel, geschlossen von zweien, die sich verachteten, jedoch den anderen noch brauchten.
Mador schickte sie fort und erlaubte ihr, ihren Gefährten in Dungun vor ihrer Sippe zu verstecken. Er folgte ihr mit den Augen.
Als sie die Tempelpforte aufstieß, erkannte er einen jungen Mann, |395| der vor dem Tempel auf sie gewartet hatte. Er musste es sein – der Sohn des dunklen Greifen. Seine Lippen verzogen sich zu
einem boshaften Lächeln, als er sah, dass Xiria auf einen verlassenen Bau wies, der früher als Wehrturm gedient hatte. Die
hölzerne Treppe, die er einst besessen hatte, war vermodert und zusammengefallen; niemand hatte sie wieder hergerichtet. Es
war Xiria ein Leichtes, ihren Gefährten dort hinaufzubringen, aber Degan besaß keine Schwingen, um herunterzugelangen. Mador
fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Degan begriff, dass er mehr ein rechteloser Besitz seiner Geliebten war als ihr
Gefährte. Ihm war es jedoch recht! Er befand, dass Degan dort oben auf dem Wehrturm bestens aufgehoben war. Immerhin trug
er eine gefährliche Macht in sich. Es war gut, den Feind im Auge zu haben, doch es war ebenso angebracht, dass er Muruk nicht
zu nahe kam. Er hatte die Macht, den dunklen Gott zu vernichten.
Mador schloss die Augen.
Salas Tränen, mein Herr! Sag mir, wo sie sind, finde sie für mich! Sende wie früher eines deiner Kinder aus, um sie zu suchen.
Rufe jene, die sich im Sumpfland verstecken, und lasse mich durch ihre Augen sehen, wie du es einst deinem Sohn gewährt hast.
Bald ist es geschafft, Muruk, mein dunkler Herr! Wir brauchen Salas Tränen. Sie müssen vernichtet werden!
Mador konzentrierte sich. Zuerst war dort nichts als die Schwärze, die ihn umschloss. Dann plötzlich explodierten Farben,
und alles begann sich zu drehen. Er war versucht, die Augen aufzureißen, doch er widerstand dem Drängen seines schwindelnden
und rebellierenden Körpers. Das Bild klärte sich, und dann sah er das Sumpfland vor sich. Gleißende
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