Blutschwestern
knapper
Geste unmissverständlich bedeutet zu warten. Ilana sollte allein vor die Göttin treten.
Nona drückte den Körper eines Falbrindes zur Seite, das von seinem Besitzer an einem Strick geführt wurde und schon fast auf
ihren Stiefeln stand. Kräftige und robuste Rinder waren sie, wenn auch ziemlich dumm und träge. Doch das Stiefelleder, das
ihre fahle Haut abgab, war dick und belastbar, und ihre geschwungenen, jedoch hohlen Hörner gaben ein tiefes, angenehmes Geräusch
von sich, wenn man sie abtrennte und hineinblies. Falbrinder waren Nutztiere, gutmütig und träge, sie gehörten aber nicht
auf den Tempelplatz. Nona hätte am liebsten den Besitzer des Tieres zurechtgewiesen, der Nonas Kampf gegen das Rind nicht
mitbekam, da er ebenso wie alle anderen zum Tempeleingang hinüberstarrte, |65| doch sie wollte keinen Streit beginnen. Viel zu angespannt erwartete sie Ilanas Rückkehr. Mit grimmiger Genugtuung zog sie
das Tier einfach am Ohr, eine seiner wenigen empfindlichen Stellen. Das Rind gab ein grunzendes Geräusch von sich und trat
endlich einen Schritt zur Seite. Nona meinte ersticken zu müssen, wenn sie noch länger in der Menge stand. Der Tag war heiß
und die Menschen schwitzten, während das Falbrind einen scharfen Geruch absonderte.
Dann öffneten sich endlich die Tore des Tempels. Liandra kam mit Ilana die Stufen herunter. Hatte am Morgen nur Liandra ernst
dreingeblickt, hatte sich nun auch Ilanas Miene verfinstert. Nona ahnte, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Ilana ging
geradewegs auf Nona zu, schenkte ihr ein mattes Lächeln und legte dann eine Hand auf die Schulter der Gefährtin. Ilanas Gesichtszüge
waren noch immer weich – trotzdem meinte Nona, dass Ilana im Tempel um Jahre gealtert war, so ernst und müde sah sie aus.
»Komm mit!«, forderte die Königin sie auf, und Nona schloss sich ohne Fragen Liandra und Ilana an, die es eilig hatten, in
das Königinnenhaus zurückzukehren.
Erst als die Türen von Ilanas Gemächern sich hinter ihnen geschlossen hatten, entspannte sich Ilanas ernstes Gesicht.
»Es ist geschehen! Ich habe gedacht, wir wären stark genug, um es zu schaffen, doch ich habe mich geirrt. Heute Morgen erreichte
uns eine Botschaft aus Dungun. Akari hat damit begonnen, ihr Heer zusammenzuziehen. Meine Schwester will gegen mich kämpfen.«
Nona blickte von Liandra zu Ilana. Sie hatte das Bedürfnis, eine kluge Bemerkung zu machen, weil Liandra sie noch immer behandelte,
als hätte sie kein Recht, an Ilanas Seite zu sein. »Aber vielleicht ist es nur eine List. Vielleicht lässt sie Muruk nur im
Glauben, dass sie kämpfen will.«
Liandra schüttelte unwillig das dunkle Haar. »Nein! Unsere |66| Späher berichteten, dass Akari eine Dienerin Muruks geworden ist. Sie hat neue Gesetze erlassen, nach welchen mehr Menschen
als früher dem dunklen Gott geopfert werden.«
»Warum hat sie das nur getan?«, flüsterte Ilana traurig. Nun sah sie wieder wie die Kindkönigin aus, die sie eigentlich war.
Ilanas liebliches Gesicht vermochte den Menschen mit ihrem Anblick Gefühle und Rührung zu entlocken, wie Nonas blasses und
schmales Gesicht nur Gleichgültigkeit bei ihnen hervorrief
»Es war zu erwarten«, antwortete Liandra knapp. »Du musst handeln, Ilana. Während Akari ihre Truppen sammelt, hast du einen
Sommer in Engil verschwendet, weil du gehofft hast, es würde nicht geschehen!«
»Was soll ich also tun?«, fragte Ilana ratlos.
»Schicke Boten in die Länder, zu den Zauberinnen des Wiesenlandes und in die Wälder von Isnal, vor allem aber ins Taligebirge,
wo die Kriegerstämme der Taluk leben. Sie sollen ihre besten Krieger und Zauberkundigen schicken. Beginne deine Streitmacht
aufzustellen!«
»Es werden noch drei Sommer vergehen, bevor Akari und ich uns in der schwarzen Wüste gegenüberstehen«, gab die Königin zu
bedenken, und Nona konnte beinahe körperlich spüren, wie sehr Ilana mit der neuen Lage überfordert war.
»Doch sie wird wohlgerüstet sein, die Greife kämpfen auf ihrer Seite sowie die grausamsten Krieger Dunguns«, erklärte Liandra
mitleidlos.
»Und wofür kämpfen wir?«, fragte Ilana aufgebracht. »Es wird keinen Sieger geben, keines der Königreiche gewinnt durch diesen
Kampf. Warum soll ich mich ihm überhaupt stellen? Entweder wird es mich mein Leben kosten, oder ich werde in die Verbannung
geschickt. Warum soll ich mich fügen?«
»Weil es das Schicksal der Menschen ist«, stellte die
Weitere Kostenlose Bücher