Blutschwestern
Feuer«, wehrte sie die erneuten Annäherungsversuche Dawons ab und suchte die Feuersteine aus ihrem
Beutel. »Du hast zu lange in den Gärten gehockt und Angst vor deinem eigenen Schatten. Geh du nur und schlaf in deinem Baum.
Ich bleibe hier!«
»Nona ist dumme Menschin. Sie sollte auf Dawon hören. Dawon riecht besser als Nona, er sieht besser als Nona. Dawon kann Dinge
sehen, die Nona nicht sehen kann.«
Angeber!
dachte sie verächtlich. Natürlich wusste sie, dass Greife besser sahen als Menschen, und auch ihr Geruchssinn war stärker
ausgeprägt. Aber nichts konnte schlimmer sein, als der Gestank eines Falbrindes, und hier auf der Lichtung duftete es nach
Erde und dem Harz der Bäume.
Nona beachtete Dawon nicht mehr und war froh, als sie seinen Flügelschlag im Rücken hörte. Anscheinend hatte er endlich aufgegeben
und hockte nun beleidigt auf seinem Baum. Sie wickelte sich in ihren Umhang und starrte in die knisternden Flammen. Das Feuer
verbreitete eine angenehme Wärme, und als sie erkannte, dass Dawon seinen Kopf unter eine Schwinge gesteckt hatte und |72| schlief, nahm sie einen Stein und schlug die Schalen der Nüsse auf. Sie wollte nicht, dass er sie den ganzen nächsten Tag
mit Fragen löcherte, wie die Nüsse geschmeckt hatten, ob er weiter sammeln sollte, ob sie ihm nun mehr vertrauen würde. Sie
wollte ihm keinen noch so kleinen Grund geben, seine Gier nach einer Paarung mit ihr zu verstärken. Nona verscharrte die Nussschalen,
nachdem sie gegessen hatte, im weichen Waldboden und rollte sich zufrieden auf dem Boden zusammen. Der Tag war lang und anstrengend
gewesen. Sie wollte nur noch schlafen.
Nona erwachte, weil ein Geräusch an ihre Ohren gedrungen war. In ihrer Ausbildung zur Kriegerin hatte sie gelernt, sofort
alle Sinne zu schärfen, wenn sie etwas aus dem Schlaf riss. Sie öffnete die Augen, es war stockfinster. Das Feuer war längst
heruntergebrannt. Sie blinzelte ein paar Mal, doch noch immer konnte sie nichts sehen. Das Laub der Bäume war einfach zu dicht,
und der Mond schien nur schwach in dieser Nacht. Sie versuchte sich auf ihre Ohren zu konzentrieren. Da war es wieder gewesen!
Ein seltsames Geräusch, das sie noch nie zuvor vernommen hatte. Es hörte sich an wie Holz oder vielleicht eher wie Knochen,
die gegeneinander schlugen. Dann raschelte das Laub. Etwas oder jemand hatte die Lichtung betreten, und der Trittfolge nach
hatte es mindestens vier Beine.
Bei Sala
, dachte Nona panisch.
Wie soll ich mich verteidigen, wenn ich nichts sehen kann?
Wieder erklang das klappernde Geräusch. Nona wusste, dass sie handeln musste. So leise wie möglich erhob sie sich und legte
ihre Hand an den Griff ihres Schwertes. Rascheln, Klappern und ein heiseres Flöten folgten. Was immer auf der Lichtung war,
es hatte sie bemerkt, und es kam näher, was bedeutete, dass es sie witterte. Und jetzt konnte sie auch den Gestank wahrnehmen,
von dem Dawon gesprochen hatte. Faulig und süß war er, einfach ekelerregend. Nona hatte noch niemals einen so schrecklichen
Geruch in der Nase gehabt. Gegen das, was auf der |73| Lichtung war, duftete ein Falbrind wie ein Garten voller Blüten. Sie zog ihr Schwert ein Stück aus dem Gürtel, wobei das Rotmetall
ein schabendes Geräusch von sich gab. Dann raschelte das Laub am Boden wieder, und Nona traf ein Schwall heißen, übelriechendern
Atems im Gesicht, begleitet von einem Sprühregen fauligen Geifers, bevor sie plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und
von zwei Armen gepackt in die Luft gezogen wurde. Etwas schnappte nach ihren Füßen, verfehlte sie jedoch. Nona begann panisch
zu zappeln.
»Ruhig, Nona!«, vernahm sie die Stimme Dawons und erkannte in diesem Moment, dass der Greif sie in die Lüfte gezogen hatte.
Schließlich setzte er Nona auf dem Ast eines Baumes ab, wo sie sich festhielt und gebannt nach unten starrte. Noch immer konnte
sie das Rascheln, Klappern und nun wütende heisere Rufen unter sich vernehmen. Das seltsame Wesen hatte die Reste ihres Feuers
gefunden und durchwühlte nun ihre Beutel.
»Was … was bei der Liebe Salas ist das?«, hauchte sie und spürte den Angstschweiß in ihrem Nacken.
»Furchtbar hässliche Kreatur aus dem Sumpfland von Dungun«, erklärte Dawon.
»Du kannst es sehen?«, fragte Nona erstaunt. Sie hatte nicht gewusst, dass Greife auch bei völliger Finsternis sehen konnten.
»Dawon sieht es«, bestätigte der Greif. »Böse und gierig ist es.
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