Blutschwestern
Greif.«
Nona sah die beiden Alten argwöhnisch an. War sie dafür den weiten, gefahrvollen Weg aus Engil gekommen, um sich seltsame
Reime anzuhören?
»Ihr guten Frauen, bitte sagt mir, was die Königin tun soll, denn |79| wir wissen es nicht, und auch der Greif weiß nicht, was er tun soll. Er weiß ja noch nicht einmal, weshalb er anders ist als
die anderen.«
Die zweite winkte nun Dawon zu sich heran, und als er sich neben sie kniete, zog sie ihn an den Wangen wie ein kleines Kind,
was Dawon mit einem Lächeln dankte. Nona wurde ungeduldig. Der Greif war nicht gerade eine Hilfe für sie.
»Was sollen wir tun? Bitte helft uns!«, versuchte sie es ein letztes Mal. Sie hätte am liebsten aufgeschrien, als die erste
wieder zu singen begann. »Der junge Greif, so ungewiss, so unvollbracht die Zukunft ist. Vertrieben wurde er, gejagt, sein
Herz nach einer Antwort fragt. Wer mag er sein, zu was bestimmt, das fragte sich das Greifenkind, doch erst der Mann soll
es erkennen, durch seine Kraft soll Dungun brennen!«
Nona konnte sich kaum noch beherrschen. Sie war nicht gekommen, um sich mit schönen Worten zufriedenzugeben. »Bei Salas Liebe!
Könnt ihr mir nicht normal antworten? Ich bin gekommen, um für Königin Ilana um Hilfe zu bitten. Ihr redet nur wirres Zeug.
Da hätte ich ja besser mit dem Schjack reden können, der durch den Wald von Isnal streift.«
Plötzlich kam Leben in die verwitterten Körper der beiden Alten. Die erste spie einen grünlichen Klumpen aus, so dass Nona
zurückweichen musste, damit die Masse nicht ihren Stiefel traf.
»Elende Schjacks! So ist es wahr, und sie haben die Grenzen von Dungun überschritten«, sagte sie mehr zu der anderen Alten,
als an Nona gewandt.
»Dann erfüllen sich die Prophezeiungen Salas. Es hat begonnen!«, krächzte die andere.
»Oh, ihr vermögt also doch normal zu sprechen«, stellte Nona zufrieden fest.
Die beiden Alten funkelten sie an. Dawon half der zweiten von ihnen aufzustehen, wobei diese ächzte und stöhnte wie ein alter
Baum.
|80| »Danke, mein Knäblein«, krächzte sie und kniff Dawon erneut in die Wange. An Nona gewandt fuhr sie fort: »Natürlich können
wir sprechen wie du, aber es schmerzt unsere Ohren, sosehr haben wir uns an die schönen Verse gewöhnt. Und wir reden nicht
mehr viel; was soll man noch zu sagen haben, wenn man über dreihundert Sommerwenden gelebt hat? Irgendwann hat man alles gesagt,
was man meinte sagen zu müssen.« Sie grummelte ein wenig vor sich hin, dann sprach sie weiter. »Ah, aber nun scheint die Zeit
gekommen zu sein, in der wir wieder sprechen müssen, denn wenn die Schjacks die Grenzen Isnals überschreiten, hat es begonnen!«
»Was hat begonnen?«, wollte Nona wissen.
»Ach, die Ungeduld der Jugend«, meckerte die erste, die noch immer am Boden saß und ihre Kräuter kaute. »Du willst Antworten
auf deine Fragen, mein ungestümes Kind? Aber diese Antworten können wir dir nicht geben. Wir sind die Hüterinnen der Geheimnisse,
der göttlichen Gesetze und die Verkünderinnen der Götter. Wir dürfen nur sagen, was sie uns befehlen preiszugeben.«
»Wofür bin ich dann gekommen?«, fragte Nona nun endgültig verzweifelt. »Wenn ihr ohnehin nicht sprechen dürft und nichts zu
sagen habt, kann ich auch ebenso gut wieder gehen.«
Bedächtig und ohne Hast hob die zweite Alte ihren Arm. »Siehst du, Schwester, ich habe es dir immer gesagt, diese jungen Menschen
hören einfach nicht zu.« Wieder an Nona gerichtet, sprach sie: »Keine Antworten dürfen aus unserem Mund kommen, doch wir dürfen
dir sehr wohl sagen, wo du Antworten finden kannst.«
»Also gut, ihr weisen Frauen«, zwang sich Nona zu einer freundlichen Entgegnung. »Dann sagt es mir!«
»Der Quell des Isnalwaldes singt, verbirgt den Schatz im Menschenkind …«, begann die eine erneut ihren Singsang.
Nona hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Bitte! In Anbetracht der Tatsache, dass die Zeit uns drängt und ein Schjack hinter
uns her ist … könntet ihr vielleicht in der Zunge der unverbesserlichen Jugend zu mir sprechen?«
|81| Fragend blickten die Alten sich an, dann nickte die erste der zweiten zu. Schließlich seufzte die zweite auf und begann zu
krächzen. »Begebt euch zu der Quelle von Isnal. Dort findet ihr eine Höhle. Ihr müsst in die Höhle hineingehen und nach der
geheimen Verkündung der Sala suchen. Die Schrift ist uralt und vergessen, und niemand kann sie lesen, doch wenn die Göttin
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