Blutschwestern
Nona bedeutete ihnen zu warten, nachdem sie fast am Stadttor Engils angekommen waren. Hier standen, wie sie befürchtet hatte,
zwei Greife und hielten Wache. Wie überheblich waren sie, dass sie die Stadttore mit nur zwei Wachen sicherten? Anscheinend
waren sie sich ihres Sieges sehr gewiss.
Nona nahm all ihren Mut zusammen und ging auf sie zu. Sie musste sich einfach darauf verlassen, dass das, was im Tempelhof
geschehen war, wieder geschehen würde. Die beiden Greife musterten Nona mit ihren starren maskenhaften Gesichtern, und einer
von ihnen verließ schließlich seinen Posten. Nona wusste, dass ihr Auftauchen ihm eine Gelegenheit zur Paarung gab, daher
ließ sie ihn so nahe kommen, dass er sie an sich ziehen und an ihrem Gewand zerren konnte. Nona schloss die Augen und wartete,
dass etwas geschah. Der Greif hatte sie schon in den Sand der Straße gedrückt, so dass Nona fürchtete, sie hätte sich geirrt.
Doch dann trat ihr Verstand wie von selbst beiseite, und sie beobachtete einmal mehr, wie ihr Körper ohne ihren Geist handelte.
Ihre Lippen legten sich auf die seinen, dann stieß er sie weg und taumelte von ihr fort. Während der erste Greif nicht wusste,
was vor sich ging, und noch überrascht auf seinen Gefährten starrte, der sich am Boden krümmte, war sie bereits bei dem zweiten
und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. Kurz darauf wälzte auch er sich am Boden, und das grausige Schauspiel der Verwandlung
vollzog sich erneut.
Als Nona ihren Körper wieder spürte, meinte sie, eine bleischwere Last zu tragen. Ihr Atem ging keuchend, ihre Beine vermochte |193| sie kaum zu heben. Doch die Greife standen bereits vor ihr, auf vier Pranken mit Klauen, ihre Raubvogelaugen auf Nona gerichtet,
den gebogenen Schnabel bedrohlich aufgerissen. Schwerfällig wies sie auf die Tränen Salas.
»Ihr müsst gehen! Sala hat euch befreit! Wenn ihr mich berührt, wird der Fluch auf ewig zurückkehren.«
Die Greife kamen näher, umkreisten sie, und Nona konnte ihre Pranken nah vor ihrem Gesicht ausmachen. Wie Elawon schreckten
auch diese beiden vor den Tränen Salas zurück und erhoben sich schließlich mit einem Schrei in die Lüfte. Nona ließ sich in
den Sand der Straße fallen und rang nach Luft, als sie endlich fort waren. Sie meinte zu ersticken, doch die Frauen halfen
ihr auf, und kurze Zeit später stand sie wankend auf ihren Beinen.
»Wie hast du das geschafft? Welch einen Zauber führst du mit dir?«, fragten die Frauen, von Ehrfurcht gepackt.
»Die Lichtgöttin Sala hat mich geschickt«, presste Nona unter schweren Atemzügen hervor. »Und jetzt geht! Tut, was ich euch
gesagt habe, und kehrt nicht nach Engil zurück, bevor ich einen Boten zu euch schicke.«
Endlich nickten die Frauen und bedankten sich. Nona sah ihnen nach, wie sie verschwanden, ein großer Tross von Frauen und
Kindern. Sie hoffte inständig, dass die Schjacks nicht weiter in die Wälder von Isnal vorgedrungen waren und sie die Flüchtlinge
nicht in den sicheren Tod schickte.
Es war nicht leicht, die Greife zu vertreiben. Doch ohne Verstand in eine Schenke voller Greife zu laufen, war sicherlich
auch nicht der beste Plan gewesen, welchen Nona hätte ersinnen können. Da sie letztendlich auf sich allein gestellt war, blieb
ihr nichts anderes übrig. Ohne groß nachzudenken, hatte sie die erste Schenke betreten und starrte nun in die kalten Augen
von gut einem Dutzend Greifen. Allein ihre Anzahl ließ sie erschaudern. Wie sollte sie es mit ihnen allen aufnehmen? Mit Widerwillen
betrachtete Nona die |194| Greife und dachte an Raganes Worte.
Deine Aufgabe ist es, die Greife daran zu hindern, auf Seiten Muruks zu kämpfen.
Hier saßen sie nun mit den Priestern Muruks und zechten. Einige von ihnen waren betrunken an ihren Tischen eingeschlafen,
was es für Nona zumindest einfacher machte, doch viele sahen sie mit klaren kalten Augen an. Einer erhob sich von seinem Stuhl
und packte sie gierig. Hastig fuhr er mit einem Arm über einen der Tische und fegte die Krüge und Becher zur Seite. Dann zog
er Nona auf den Tisch, begleitet vom Lachen und den anspornenden Rufen der Priester. Der Greif zerrte an ihrem Gewand, und
obwohl sie in heller Panik war, legte sie wie eine Liebende die Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter.
Dann trat ihr Geist beiseite und bestaunte einmal mehr ihren Körper, der sich ohne ihren Willen zu bewegen schien.
Ihr Peiniger erstarrte, sobald ihre
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