Blutseele
er den verschütteten Tee von seiner Hand. »Eine sekundäre Überlebenstaktik«, hauchte er, als sein Wissen sich einschaltete. »Jetzt verstehe ich es! Wenn die Dichte von Bäumen innerhalb einer abgegrenzten Population eine kritische Grenze überschreitet, wird Raum zu einem solch limitierenden Faktor, dass der Baum einen neuen Weg finden muss, sein Territorium zu schützen. Er ist gezwungen, eine Möglichkeit zu finden, seinen Stamm zu verlassen, um sein Revier direkt zu beeinflussen und körperlich zu verteidigen. Daher die Dryaden!« Will lehnte sich vor, und seine Haut kribbelte. »Je mehr Bäume sich in diesem Habitat befinden, desto klüger müssen die Dryaden sein. Und wenn die Gefahr von Abholzung besteht, verschwinden sie, weil sie wieder fähig sind, sich durch normalere Abwehrmechanismen zu verteidigen. Das ist fantastisch!«, jubelte er. Sein Blick war auf Diana gerichtet. Sie lächelte, und ihre Erleichterung machte sie wunderschön.
»Also wirst du bleiben? Die Wälder nicht abholzen?«
Wills Lächeln verblasste, als die Realität wieder von ihm Besitz ergriff. Mit leerem Blick starrte er zwischen die grauen, nebelverhangenen Bäume. Es wäre so einfach zu bleiben, diesen Ort zu übernehmen, den andere geschaffen hatten. Aber er konnte nicht. Der Gedanke, dass er nichts getan hatte, um das zu verdienen, würde ihm jedes Vergnügen an dem Wald rauben. »Ich bin gekommen, um den Wald zu verkaufen«, sagte er langsam. In diesem Moment hasste er seinen Vater dafür, dass er ihn in dem tiefen Glauben aufgezogen hatte, dass man seines eigenen Glückes Schmied war. »Ich sehe keinen Grund, meine Pläne zu ändern.«
Ms. Temsons Tasse knallte auf den Boden.
»Aber die Dryaden!«, rief Diana. »Das kannst du nicht tun.«
Will senkte den Blick. »Ms. Temson kann den Wald nicht erben«, sagte er langsam. »Also werde ich ihn ihr verkaufen.«
Diana riss die Augen auf, als sie verstand. »Aber du bist ein Temson! Du gehörst hierher! Besonders jetzt, wo du alles weißt.«
»Nein, das tue ich nicht.« Er deutete mit einer schwachen Geste auf die Bäume. »Wie Ms. Temson schon sagte, das ist nicht die Frucht meiner Arbeit. Diese Wälder gehören nicht mir. Ich bin von Bäumen umgeben aufgewachsen – in dem festen Wissen, dass es noch mehr gibt, ein Stück außerhalb meiner Reichweite. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, plötzlich zu erfahren …« Will sah flehend zu den toten Ästen über sich auf, während er nach Worten suchte.
»Hört mir zu«, sagte er dann, weil er wollte, dass sie ihn verstanden. »Jetzt, wo ich es weiß, muss ich mich fragen, wie der Geist einer Esche oder eines wilden Hartriegels in den Wäldern aussähe, in denen ich aufgewachsen bin. Der Geist einer stattlichen Hemlocktanne, eines gesamten Hügels voller Birken, eines Wäldchens wilder Kirschen, die im Frühjahr das Unterholz mit ihren weißen Blüten zum Leuchten bringen … existieren diese Geister überhaupt noch? Ist es zu spät? Ich will es wissen. Jetzt, wo mir die Augen geöffnet wurden, will ich es wissen! Versteht ihr das?«
Die zwei Frauen musterten ihn, eine mit dem allumfassenden Staunen der Jugend und die andere mit der unsterblichen Hoffnung des Alters. »Wie viel Geld haben Sie in der Tasche?«, fragte Will die Schwester seines Großvaters wie betäubt.
Mit zitternden Fingern zog Ms. Temson einen verblassten Stoffgeldbeutel hervor und streckte ihm dann zwei Münzen entgegen. Wills Brust verengte sich, vielleicht vor Trauer, als er die Metallscheiben entgegennahm. Für einen Moment fühlte er ihr Gewicht in der Hand, dann warf er sie in den Wald. Er hörte nicht, wie sie fielen. Stattdessen erfüllte ein erfreuter Ruf und ein Kichern die feuchte, von einer unsichtbaren Sonne goldgefärbte Luft. »Ihr Anwalt kann am Montag die nötigen Papiere aufsetzen«, sagte er. Er wusste, dass er Ms. Temson ihr Leben zurückgegeben hatte, während er gleichzeitig spürte, wie ihm selbst etwas Unbestimmtes, Unbestimmbares verloren ging.
Ms. Temson, die mit geradem Rücken vor ihm saß, fing an zu weinen. Er schwieg, weil er wusste, dass jedes Wort sie nur verlegen machen würde. Diana kümmerte sich um sie, während sie ihm immer wieder Blicke zuwarf. »Es tut mir leid«, schluchzte die alte Frau. »Es muss an der Kälte des Bodens liegen. Ich denke, wir sollten am besten gehen.«
Diana half ihr auf die Beine, während sie Will mit einem ganz neuen Leuchten in den Augen ansah. Es war, als könnte sie ihn zum
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