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Blutseele

Blutseele

Titel: Blutseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
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baumeln und überlegte, ob es sich lohnte, sich die Schuhe auszuziehen und ihre Röcke hochzubinden, um sich der Neunjährigen anzuschließen. Tage wie heute waren selten. Etwas an dem Wind, der von den Hügeln wehte, erinnerte sie an ihre eigene Jugend – als flüsterte er von dem Versprechen auf etwas Neues, etwas, was ganz ihr gehörte und sie niemals teilen müsste.
    »Kleiner Kupferpenny in dem Baum«, sang Meg mit gesenktem Kopf, während ihre nackten Füße auf den glatten Steinen des Bachbettes Halt suchten. »Baum fällt um, fängst mich nicht. Kleiner Kupferpenny, einsam wie im Traum. Nichts lebt ewig außer Penny und ich!«
    Emilys Lächeln verblasste, während ihr Blick an dem Farmhaus vorbeiglitt, in dem sie mit ihrer Tochter und ihren Enkelinnen lebte, um den Wald dahinter zu mustern. Nein. Gott, nein. Es musste ein Irrtum sein. Emily lehnte sich vor und schlang die Arme um den Körper, weil ihr plötzlich kalt war. »Meg, wo hast du das gehört?«
    Das kleine Mädchen hörte die Warnung in den Worten nicht. Sie richtete sich auf, und Wassertropfen glitzerten auf ihren Armen. »Penny«, sagte sie und lächelte zu ihrer Großmutter auf, ein Auge zugekniffen, eines offen. »Ich kann ihn direkt durch meine Zehen singen hören. Grandma, darf ich bitte im Wald spazieren gehen? Auf der Weide ist es zu heiß. Ich bleibe auch auf dem Weg. Versprochen!«
    Angst nahm der alten Frau den Atem. Die Erinnerungen, die in ihr aufstiegen, waren so klar, als hätte es die letzten fünf Jahrzehnte nicht gegeben, und sie wäre wieder vierzehn, kurz vor der Verwandlung in eine Frau, und müsste um ihr Leben kämpfen. Penn. Penny. Wie lange sang Meg dieses Lied schon? Seit Tagen?
    »Bitte?«, flehte Meg und legte eine vom Bachwasser eisige Hand auf ihr Knie.
    Keuchend schnappte Emily nach Luft. Sie griff nach unten und riss Meg aus dem Wasser. Fast hätte ihr Rücken nachgegeben, als das Mädchen protestierte und sie zusammen auf das trockene, sonnengebleichte Holz der Brücke fielen. Emily blinzelte schnell, als Meg sich jammernd auf die Füße rollte.
    »Meg, geh ins Haus.«
    Mit einem Blick zum Wasser protestierte das kleine Mädchen. Emily streckte die Hand aus und kniff sie in den Arm. »Geh ins Haus! Ich hole deine Schuhe«, sagte sie wieder. Schmollend ging das Mädchen davon und rieb sich im Gehen den Schmutz von den Armen.
    Mit klopfendem Herzen sah Emily am Farmhaus vorbei. Die Sonne glitzerte immer noch auf dem Wasser und verlockte sie, die kühle Feuchte zu genießen. Der Wind in den Bäumen versprach Erleichterung, wenn sie nur unter seinen schützenden Schirm gleiten würde – und es war alles eine Lüge.
    Ihre Falle hatte nicht gehalten. Er war ungebunden. Er sang. Er war frei.

1

    Mit geballten Fäusten stand Lilly vor der Tür von Megs und Ems Zimmer und lauschte auf die Stimme ihrer alten Mutter, die den Mädchen ihre Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Sie lehnte sich vor, als wollte sie klopfen, dann runzelte sie die Stirn. Ein Teil von ihr wollte unbedingt eingreifen und das unterbrechen, was sie für die ersten Anzeichen von Alterserscheinungen ihrer Mutter hielt. Ein anderer Teil von ihr lauschte gespannt. Sie erinnerte sich, diese Geschichte selbst als Mädchen gehört zu haben, während der abkühlende Wind die Hitze des Tages aus dem Raum vertrieb – aus genau dem Zimmer, das nun ihre eigenen Kinder als das ihre betrachteten. Das breite, von weißer Spitze umrahmte Fenster ging zu den Wäldern hinaus, und Lilly erinnerte sich nur zu gut an die vielen Male, wo sie sich wachgehalten hatte, um auf Wölfe zu lauschen, die es nicht mehr gab. Sie hatte sich gewünscht, dass das Märchen ihrer Mutter von einem schönen, boshaften Jungen mit roten Haaren wahr wäre. Sie hatte sich so sehr nach einem Abenteuer verzehrt. Aber er war nicht gekommen, um ihr von unter dem Fenster etwas zuzuflüstern und sie dazu zu verlocken, im Mondlicht mit ihm zu tanzen.
    Ihr war leicht übel, als sie sich zurücklehnte und die Hände sinken ließ. Penn, so hatte ihre Mutter ihn genannt, während sie mit abwesendem Blick Geschichten erzählte. Geschichten, in denen der Hüter des Waldes als cleverer Wolf erscheinen oder das Aussehen eines zuverlässigen Freundes annehmen konnte, um einen in seiner unbarmherzigen Suche nach einer Seele in einen frühen Tod zu locken – ein wunderschöner Junge mit lachenden Augen und einer Begabung für Unheil, die niemand erkennen konnte, außer man lockte ihn mit dem Versprechen von

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