Blutseele
kleine Mäd chen glauben wollen. Wenn wir ihn nicht finden und binden, wird er ihr wehtun. Menschen werden sterben! Menschen, die du kennst und liebst!«
Lilly zuckte zusammen, als ihre Mutter sie schmerzhaft fest am Handgelenk packte. »Blut kann ihn binden, aber es macht ihn auch stark genug, um sichtbar zu werden, also wird er es riskieren«, zischte sie. Lilly wich zurück. »Ich möchte nicht, dass meine Enkelinnen diese Hölle durchmachen müssen! Er ist so grausam, so schön.«
Lilly beobachtete, wie Tränen in die müden Augen ihrer Mutter stiegen, und zog ihren Arm zurück, als Emily ihn freigab.
»Mein Baby«, sagte ihre Mutter und wandte sich mit gesenktem Kopf ab. »Er singt für sie. Sie kann ihn hören. Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich hätte dir die Wahrheit sagen müssen, aber ich wollte nicht, dass du glauben musst!«
»Mom?« Verdammt, jetzt weinte die ältere Frau. Verängstigt von den Stimmungsschwankungen ihrer Mutter legte Lilly ihr eine Hand auf die Schulter. »Mom, es ist nur eine Geschichte«, sagte sie, als die ältere Frau ein Taschentuch aus der winzigen Tasche ihres Kleides zog und ihre Augen damit bedeckte. »Es wird alles gut. Wenn du Meg nichts von Ein hörnern und bösen Hexen erzählen würdest, würde sie auch nicht solche Sachen erfinden! Es wird nichts passieren. Meg geht es gut! Und Em auch.«
Doch ihre Mutter weinte immer noch, und Lillys Gedanken rasten. »Wo ist deine Medizin?«, fragte sie plötzlich. »Hast du sie noch?« Ihre Mutter hatte seit zwanzig Jahren keinen solchen Anfall mehr erlitten. Nicht, seit Emilys Ehemann gestorben war, während er versuchte, einen umgefallenen Baum von einem Zaun zu ziehen. Der Stamm war gekippt, als er einen großen Ast entfernt hatte. Der Baum hatte ihn unter sich begraben und sofort getötet.
»Das ist Gift. Ich habe es weggeworfen«, erklärte Emily , dann packte sie den Ärmel ihrer Tochter, damit sie stehen blieb. »Es geht mir gut. Du hast recht. Meg hat die Stimme nur erfunden.« Mit gerötetem Gesicht fuhr Emily sich über das Gesicht und lächelte, obwohl in ihren Augen immer noch Tränen standen. »Es ist nur eine Geschichte. Du hast recht. Ich bin eine närrische Alte, die zu lange in der Sonne gesessen hat.«
Lilly hörte die Lüge. Ihr Magen verkrampfte sich, während sie ihre Mutter dabei beobachtete, wie sie das Geschirrtuch auf die Arbeitsfläche legte und ihr den Rücken zuwandte. »Ich bin müde«, flüsterte Emily und ging ohne einen Blick zu ihrer Tochter Richtung Flur. »Ich werde mich hinlegen.«
»Mom?«
Emily schenkte ihr ein weiteres, zitterndes Lächeln und zögerte auf der Türschwelle, eine Hand am hölzernen Türrahmen, die andere zur Faust geballt. »Gute Nacht, Lilly. Wir sehen uns morgen früh. Du hast recht. Es ist nur die überspannte Geschichte einer alten Frau. Ich sammle morgen früh die Eier ein. Du musst also nicht früh aufstehen.«
Lilly kniff die Augen zusammen und verschränkte zum zweiten Mal an diesem Abend die Arme vor der Brust. Sie war wütend auf ihre Mutter, und sie glaubte nicht eine Se kunde an diesen plötzlichen Sinneswandel. Lilly blieb besorgt, während sie den Lappen über das Abtropfgestell hängte und das Licht ausschaltete, um Pepper im Mondlicht besser sehen zu können.
Jenseits des Fensters glitzerte der Bach wie ein sich bewegendes, lebendes silbernes Band. Vielleicht sollte sie Kevin anrufen, auch wenn sie ihm eigentlich die Augen mit einem Eispickel aushacken wollte. Kevin war ein Mistkerl, aber sein Vater war zusammen mit ihrer Mutter aufgewachsen. Irgendetwas war geschehen, als ihre Mutter vierzehn gewesen war. Etwas, worüber niemand je redete und worüber keine Zei tung geschrieben hatte. Es hatte sicherlich nichts mit einem Baumgeist zu tun … aber vielleicht hatte jemand, dem sie vertraut hatte, Emily etwas angetan, und sie hatte diese Geschichte erfunden, um ihr Trauma besser verarbeiten zu können. Vielleicht hatte Megs albernes Lied heute alles wiederaufleben lassen. Alternde Menschen erinnerten sich manchmal besser an die Vergangenheit als an die Gegenwart.
Kevins Vater würde es wissen. Er war der beste Freund ihrer Mutter gewesen.
2
Obwohl die aufgehende Sonne bereits hell in das Zimmer der Mädchen schien, schlief die kleine Em noch. Lilly schloss leise die Tür und lächelte über den Schmollmund, den die Vierjährige zur Schau trug. Doch das Lächeln verblasste schnell, als sie nach unten ging. Sofort wurde es kühler, wenn auch nicht
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