Blutseele
hatte vorgegeben, sich ein paar Stunden hinlegen zu wollen, weil sie zu lange in der Sonne gewesen sei, doch Lilly hatte gehört, wie sie in ihrem Schrank herumwühlte. Als Lilly später in ihr Zimmer spähte, sah jedoch alles aus wie immer.
Lilly kniff die Augen zusammen, als sie das Knirschen der unteren drei Stufen hörte, und schob die vier Teller in dem Moment in den Schrank, in dem ihre Mutter den Raum betrat. Doch dann verpuffte ihre Entschlossenheit. Lilly stemmte die Hände auf die Arbeitsfläche und senkte den Kopf, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Ich bin dran mit Aufräumen«, sagte ihre Mutter, und der leicht herausfordernde Ton in ihrer Stimme ließ Lilly den Kopf heben.
»Mom.« Lilly blinzelte, als sie die Veränderung an ihrer Mutter bemerkte. Sie trug immer noch das Sommerkleid aus Baumwolle mit dem Muster aus blauen Blumen und Bie nen und die halb grauen, halb schwarzen Haare im Nacken zu einem Zopf gebunden. Sonnengebräunte, sehnige Arme waren über der Brust verschränkt, und der Blick in ihren fahlblauen Augen wirkte trotzig. Sie stand auf der Türschwelle zur Küche. Sie war fast so alt wie das Haus selbst, war fast so sehr ein Teil des Landes wie der Bach und der Wald da hinter. Ihre unglaublichen Geschichten von Gefahr, Tod und Versuchung waren immer von ihrem nüchternen, klaren Blick auf die Realität ergänzt worden. Diese Begabung hatte es ihr ermöglicht, ihre Familie durch die Sorgen und Nöte zu führen, die automatisch auftraten, wenn man allein als Farmer am Rande der zivilisierten Welt lebte. Doch jetzt, so extrem … Lilly hatte Angst.
»Mir ist egal, ob du mir glaubst oder nicht«, erklärte ihre Mutter und kam damit schonungslos sofort zum Punkt. »Die Mädchen müssen fähig sein, sich selbst zu beschützen. Besonders Meg. Sie steht zu nah davor, zur Frau zu werden.«
Diskussionen waren etwas Vertrautes in dieser Familie, und Lilly sackte in sich zusammen. »Mom, mir gefällt, dass du die Mädchen ins Bett bringst. Aber ich bin diejenige, in deren Bett sie sich flüchten, wenn sie Angst bekommen. Kannst du ihnen nicht einfach Schneewittchen vorlesen?«
Ihre Mutter riss Lilly das Trockentuch aus der Hand und schob sich an ihr vorbei zur Spüle. »Genau. Die Geschichte einer mordenden Stiefmutter ist ja so viel besser als die Ermahnung, keinem attraktiven Mann zu glauben, der dir verspricht, dass er dir für immer gehören wird, wenn du ihm nur einen kleinen Gefallen tust, und dabei leider nicht erwähnt, dass du damit deine Seele verdammst und ihn auf eine Welt loslässt, die heutzutage kaum noch fähig ist, sich gegen ihn zu wehren. Niemand glaubt. Deswegen wird er überleben. Deswegen wird er wieder töten. Er ist entkommen, Lilly. Ich konnte ihn nicht halten.«
»Mom … ›Blut ist bindend, Blut ist Reiz‹? Du jagst den Mädchen Angst ein.«
»Tue ich nicht.«
Die Antwort klang mürrisch, und Lilly trat vor, die Hand flehend ausgestreckt. »Du jagst mir Angst ein.«
Ihre Mutter presste die Lippen aufeinander, und ihre gesamte Haltung wirkte entschlossen. »Ich muss nachschauen gehen. Vielleicht ist der Baum gestorben. Ich hätte besser aufpassen müssen, aber ich hatte einfach nicht gedacht, dass er so lange wach bleiben würde.«
Angst durchfuhr Lilly, Angst davor, dass ihre Mutter den Kontakt zur Realität verlor. »Es gibt keinen Baumgeist, der Männer umbringt, die Bäume abholzen!«
»Er ist dort draußen!« Ihre Mutter deutete in das Mondlicht jenseits des Fensters. Lilly war über ihre Lautstärke schockiert. »Meg hat ihn singen gehört. Heute, im Bach. Er kann kein fließendes Wasser überqueren, aber er kann es zur Kommunikation verwenden. Und wenn der Baum, in dem er eingeschlossen war, gestorben ist … Er könnte jetzt im Moment dort draußen sein, uns beobachten und herausfinden, was wir uns auf der Welt am meisten wünschen.«
Lilly beobachtete, wie ihre Mutter bleich wurde. »Bittersüß«, flüsterte die alte Frau. »Er mochte kein Bittersüß. Erinnerst du dich an den Zaunpfosten, auf dem es gewachsen ist? Ich kann etwas davon über das Fenster der Mädchen binden. Vielleicht hält ihn das fern.«
»Das reicht jetzt!«, rief Lilly, um sofort einen Blick zur Treppe zu werfen, weil sie sich Sorgen machte, dass Meg sie gehört hatte und nach unten kommen würde.
»Er ist dort draußen!«, entgegnete ihre Mutter scharf und mit wildem Blick. »Meg ist verletzlich. Er hasst Männer, aber Frauen bezaubern ihn. Und er weiß, was
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