Blutsgeschwister
starrte Kit in die Luft.
»Was ist?«
»Ich stelle mir nur vor, wie es wäre, wenn Madda aufhören würde, mich zu lieben.« Als sie Fancy ansah, waren ihre Augen feucht. »Ich glaube, es würde wehtun, so wie Folter wehtut.«
»Kit.«
»Nein«, sagte sie, als Fancy zu ihr gehen wollte. »Es ist okay. Ich habe diesen Sommer eine ganze Menge gelernt. Und eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass ich mich nicht auf Maddas Liebe verlassen muss. Es gibt noch andere Menschen, die mich lieben. Gabe liebt mich.«
Der Name »Gabe« zitterte in Fancys Bauch wie ein vergifteter Pfeil.
»Trotzdem«, fuhr Kit fort. »Wenn Madda all den Mord und Totschlag ignorieren und mich trotzdem lieben könnte, hätte ich, glaube ich, alles, was ich will.«
Fancy warf den Tesafilm nach Kit und hätte fast ihr Auge getroffen. Stattdessen segelte er an ihr vorbei und verschwand im Schatten des mit Fensterläden verrammelten Raums.
»Niemand bekommt alles, was er will. Warum sollte es bei dir anders sein?«
AUS FANCYS TRAUMTAGEBUCH:
Es regnete, und ich konnte Daddys Gesicht in allen Regentropfen sehen.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
Nachdem Kit und Gabriel an diesem Freitag aufgebrochen waren, hängte Fancy die Wäsche im Hinterhof auf. Ein Streifenwagen fuhr in die Einfahrt. Sie versuchte, nicht in Panik zu verfallen, als Sheriff Baker ausstieg und auf sie zukam. Er trug eine braune Uniform und einen Hut und erinnerte Fancy an einen riesigen Teddybären, nur dass er nicht ganz so freundlich aussah.
»Fancy.« Er tippte zur Begrüßung kurz seinen Hut an. Polizisten grüßten niemanden, den sie verhaften wollten, oder?
»Ich hab davon gehört, was ihr so gemacht habt.«
Fancy ließ die Wäscheklammern fallen.
»Mit den Frems. Mit Datura Woodson. Mit Annie Snoad.« Sheriff Baker hob die Wäscheklammern auf und half Fancy, die Bettlaken, mit denen sie kämpfte, auf die Leine zu hängen. »Das habt ihr wirklich gut gemacht.«
» Gut?«
»Wenn dein Pa sich darauf beschränkt hätte, so hilfsbereit wie du und deine Schwester zu sein, hätte ich auf ihn aufpassen können, und es wäre vielleicht anders ausgegangen. Das bleibt natürlich unter uns.«
»Jeder sagt«, rief Fancy, »dass alles ein Geheimnis ist. Dass sie es nie weitersagen werden, aber … Jeder weiß alles!«
Sheriff Baker schmunzelte. »Du solltest es besser wissen, als in einer kleinen Stadt zu versuchen, ein Geheimnis zu bewahren. Wir alle sind hier wie eine große Familie.« Er wischte sich mit einem roten Taschentuch die Stirn, und ihr fiel auf, dass die letzten beiden Finger seiner rechten Hand fehlten. Tiefe Bissspuren waren in das verbliebene Fleisch gekerbt. »Was ich bei deinem Pa nie leiden konnte, war, dass er seine Mitbürger aus Portero so verletzen konnte. Wir haben in unserer Stadt schon genug damit zu tun, sicher zu sein, da können wir es nicht auch noch gebrauchen, uns darüber Gedanken machen zu müssen, ob uns der Nachbar in Stücke hackt. Jedenfalls, ich dachte, ich komm mal rüber und besuch dich. Und lass dich wissen, dass ich dir den Rücken freihalte.« Er warf ihr einen durchtriebenen Blick zu. »Und falls ich mal irgendwelchen widerlichen Charakteren über den Weg laufe, um die man sich abseits der strengen Augen des Gesetzes kümmern müsste …«
»Halte ich Ihnen den Rücken frei?«
»Gutes Mädchen.« Er tätschelte ihre Schulter und schob sie von der Wäsche weg. »Bring mich zum Auto, dann kann ich dir noch einen Berg Muffins geben. Hat meine Frau extra für euch gebacken.«
Als sie zu seinem Wagen gingen, kam Ilan in seinem Oldsmobile angefahren. Nachdem er zu ihr gejoggt war, schnappte er sie sich und küsste ihre Wange. Mehr ließ sie nicht zu. Sie deutete auf den Sheriff, der die beiden unverhohlen beobachtete.
»Hey, Sheriff.«
»Ilan.« Der Sheriff sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er Ilan Handschellen anlegen oder ihm auf die Füße schießen sollte, um ihn vom Grundstück zu jagen. Er wandte sich zu Fancy. »Ist deine Ma noch bei der Arbeit?«
»Sie ist im Laden.«
Sheriff Baker reichte ihr den mit Plastikfolie umwickelten Teller Blaubeermuffins und sagte: »Na ja, ihr zwei bleibt dann mal draußen. Es gehört sich nicht für Jungs, bei jungen Mädchen rumzuhängen, wenn deren Familie nicht zu Hause ist.«
»Ja, Sir«, sagte Ilan und gab sich größte Mühe, unschuldig zu erscheinen. Es gelang ihm nicht.
»Lass dir die Muffins schmecken«, sagte der Sheriff zu Fancy, nachdem er Ilan einen letzten
Weitere Kostenlose Bücher