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Blutsgeschwister

Blutsgeschwister

Titel: Blutsgeschwister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dia Reeves
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hat sie für mich gemacht, bevor er gegangen ist.« Sie ließ die Puppe Ilans Ohr küssen, aber Ilan schien die Küsse von Baron von Großohr ebenso wenig zu mögen wie von ihr. »Hätten Sie gerne die große Tour, gnädiger Herr?«, sagte Fancy in Baron von Großohrs tiefer, getragener Stimme.
    Ilan schaute Baron von Großohr misstrauisch an. »O-kay.«
    Fancy ließ Baron von Großohr die Führung zu allen wichtigen Glücklicher-Ort-Schauplätzen machen: zu dem großen Hügel, von dem aus man den Strand sah, zu den Segelschiffen, zu dem Pavillon. Aber als ihm Baron von Großohr die Fahrgeschäfte in der Nähe des Strands zeigte, fing Ilan an zu lachen.
    »Was ist so lustig?«, fragte Fancy in ihrer eigenen Stimme.
    Ilan lehnte sich an die Plattform eines Karussells, um wieder Atem zu schöpfen. »Es ist so kindisch. Dieser Ort. Du.«
    »Ich bin nicht kindisch.«
    »Ich dachte, du machst einen Witz über die Zauberstäbe. Aber ich wette, du spielst auch immer noch mit Zauberwürfeln und Springseilen und dem ganzen Scheiß, oder?«
    »Das ist kein Scheiß. Und es ist nicht kindisch!«
    Ilan beugte sich vor und schnappte sich Baron von Großohr. Er steckte sich die Puppe über seinen Finger und ließ sie sprechen. »Warum magst du das Karussell, kleines Mädchen?«, fragte er in einer brauchbaren Version von Baron von Großohr.
    Fancy starrte die Puppe an. Sie war verwirrt von der Vorstellung, dass ihr einst freundliches Spielzeug sich nun über sie lustig machte. »Ich reite gerne auf den Pferden.«
    »Rauf und runter mit etwas Festem zwischen den Beinen«, sagte Baron von Großohr weise. »Alle Mädchen mögen das. So üben sie.«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    »Oh doch, das weißt du.« Baron von Großohr tauchte kopfüber in ihren Ausschnitt.
    »Hör auf.« Fancy entriss Ilan die Fingerpuppe und schrie ihm noch einmal ins Gesicht: »Hör auf!«
    »Kann ich nicht.« Er sprach in seiner eigenen Stimme. »Und du auch nicht. Keines deiner kleinen Spielzeuge kann verhindern, dass du erwachsen wirst.« Er versuchte, sich die Fingerpuppe zu schnappen, aber Fancy versteckte sie hinter ihrem Rücken. Statt danach zu greifen, nahm Ilan Fancys Ellenbogen. Er zog sie auf das Karussell, an den Pferden vorbei, und brachte sie zu der hellen, metallenen Säule, um die sich das Karussell drehte.
    Sobald Fancy sich selbst sah, hörte sie auf sich zu wehren. Der Schock, ihr Spiegelbild zu sehen, lähmte sie. Sie war überzeugt, dass das Metall ihr Spiegelbild in diese Gruselkabinettskreatur verzerrte, die ihr entgegenstarrte, dieses zu große Mädchen in einem zu kleinen Kleid – ein Kindergesicht, ja, aber mit Augen voll dunklem Verstehen.
    »Siehst du es?«, fragte Ilan und ließ ihren Arm los.
    Fancy nickte und sah, wie das Mädchen im Spiegel nickte. Sie fragte sich, warum ihr nie jemand gesagt hatte, wie lächerlich sie aussah, wie traurig und verblendet.
    »Vertraust du mir?«, fragte Ilan sanft. Er streckte die Hand aus. »Du hast es jedenfalls gesagt.«
    Sie legte die Fingerpuppe in seine Hand und fühlte einen stechenden Schmerz, als er sie achtlos in seine Tasche stecke. Sie folgte ihm vom Karussell herunter und zupfte an ihrem Kleid. Hatte es schon immer so eng gesessen?
    »Also, warum lässt du das hier nicht alles sein?«, fragte Ilan und deutete mit dem Arm nicht nur zum Karussell, sondern auf den gesamten Jahrmarkt. »Nur um zu schauen, wie es ist. Nur um zu sehen, was hinter dieser ganzen Kinderkacke ist.«
    Sie sah auf die Pferde, auf denen zu reiten ihr einst so viel Spaß gemacht hatte, aber jetzt schämte sie sich dafür. Das Riesenrad fiel mit einem grausamen Krachen auf die Seite. Die Ketten der Schiffsschaukel, brachen, und die Karussellpferde wurden alt und grau und welkten an ihren Stangen wie überreife Früchte.
    »Und jetzt?«
    »Das liegt ganz bei dir!«, rief Ilan, als wäre es aufregend, nicht zu wissen, wer man ist. Er begutachtete das Ödland, das aus dem Jahrmarkt geworden war, mit fast schon hämischer Zufriedenheit. »Denk groß. Was willst du unbedingt tun, wenn du erwachsen bist?«
    Darüber musste Fancy nicht lange nachdenken. Sie wusste genau, was sie tun wollte, wenn sie alt genug war.
    Ein Glücklicher-Ort-Bewohner erschien auf der anderen Seite des ruinierten Karussells und schleuderte Ilan eine Tomate ins Gesicht.
    »Wenn du erwachsen bist«, sagte Ilan, und seine Stimme war erstaunlich ruhig, während die Tomate an seiner Stirn klebte wie ein hässlicher, mutierter Pickel,

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