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Blutsgeschwister

Blutsgeschwister

Titel: Blutsgeschwister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dia Reeves
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ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.
    Die Aufgabe im Kunstunterricht lautete, eine Kindheitserinnerung zu malen. Fancy hatte einen bärtigen Seewolf gemalt. Sie betrachtete den Seewolf und erinnerte sich daran, wie Daddy sie und Kit zum ersten Mal zum Angeln am Sabine River mitgenommen hatte, wie cool es gewesen war, über das Wasser direkt nach Louisiana zu sehen, und wie geduldig Daddy mit ihr und Kit gewesen war. Er hatte ihnen geholfen, die Haken aufzuziehen, und ihnen Märchen erzählt, damit sie nicht merkten, wie lange es dauerte, bis etwas anbiss. Der Seewolf stand für all das, aber Mr. Hofstram verstand es nicht.
    »Was soll diese Scheußlichkeit bitte darstellen?«, rief er und tupfte sein Gesicht mit einem Taschentuch ab.
    »Einen Fisch.«
    »Einen Fisch!«, rief Mr. Hofstram und hielt sich das Taschentuch über die Nase, als würde das Bild stinken. »Was sind das für Perspektiven? Es sollte drei Dimensionen haben. Drei! Nicht zwölf.«
    »Ich zeichne, was ich sehe, Sir«, sagte sie und widerstand dem Drang, Mr. Hofstram mit dem Pinsel aufzuspießen. »Es ist nicht meine Schuld, wenn Sie es nicht verstehen.«
    »Es ist deine Schuld. Die Aufgabe eines Künstlers ist es, die Leute verstehen zu lassen.«
    »Ich bin kein Künstler.«
    »Da werde ich nicht widersprechen, Madam.« Fancy ignorierte das Gekicher der anderen Schüler. Mr. Hofstram wandte sich Ilans Arbeit zu.
    Ilan hatte Ölfarbe benutzt, die seinem Bild die feuchte Wirklichkeit eines Fotos gab. Eines Tatortfotos. Er hatte Fancys Keller gemalt. Fancy bekam eine Gänsehaut, weil er so viele Details richtig hinbekommen hatte und makellos darstellte, wie es dort vor drei Jahren ausgesehen hatte: das hohe Metallregal, die Pritsche, sogar Daddys Spiegel, der damals an der Wand hing – da er mit Blut verschmiert war, hatten ihn die Polizisten als Beweisstück mitgenommen. Das bedrückende Grau des Raums war so übertrieben, dass der Raum wirkte, als sei er aus dichtem Nebel entstanden.
    Dagegen war Mr. Turners Körper fast schon klinisch detailliert dargestellt: Er war in nackte, blutleere Stücke verstreut wie ein zerlegter Leichnam. Mr. Turners Kopf lag hoch oben auf dem Metallregal, einer seiner muskulösen Arme lag auf der Pritsche, und die beiden Beine lehnten achtlos wie dunkle, haarige Hähnchenschenkel an der Wand. In einer dunklen Ecke des Kellers kringelte sich etwas, das eine Maus sein könnte … oder ein Penis.
    So, wie Mr. Turners Kopf aus dem Bild starrte, trug er, obwohl abgetrennt, keinen Ausdruck des Todes, sondern wirkte aufmerksam und sehr lebendig. Der Blick war zugleich schön und schrecklich – schön, weil alle Turner-Männer schön waren, und schrecklich, weil er nicht verstanden zu haben schien, was mit ihm geschehen war, trotz der Knochensäge, die mitten auf dem Boden unter Mr. Turners Kopf blutete.
    Obwohl Ilan sich einige Freiheiten mit seinem Gemälde herausgenommen hatte – es war nur Mr. Turners abgetrennter Arm im Keller gefunden worden –, musste Mr. Hofstram nicht nachfragen, um welche Erinnerung es sich handelte. Jeder wusste, was mit Ilans Vater passiert war, und über den berüchtigten Keller des Knochensägen-Killers war schon genug geschrieben worden, dass ihn auch Leute beschreiben konnten, die ihn nie gesehen hatten.
    »Interessante Herangehensweise an das Jenseits, Ilan«, murmelte Mr. Hofstram ganz ohne die Verachtung, die er in die Stimme legte, wann immer er mit Fancy sprach. »Ihn zerlegt in diesem Keller zu zeigen statt irgendwo auf einer Wolke.«
    »Im Himmel? Ich glaube nicht an so Zeug.«
    »Kunst als Therapie. Du könntest versuchen, ihn auf einer Wolke zu zeigen. Vielleicht geht es dir damit besser.« Mr. Hofstram ging weiter zu den nächsten Schülern und umkreiste sie, als wären sie ein großer Hexenring. Vielleicht würde er ja einen Kreis zu viel machen und durch eine Tür verschwinden.
    »Vielleicht will ich mich gar nicht besser fühlen.« Als Fancy ihren Blick von Ilans Vater riss, fand sie sich Ilan gegenüber, der sie ansah. Er hatte einen Strich roter Farbe auf der Wange, als wäre es Kriegsbemalung. Aber sein Blick hatte nichts von einem Krieger an sich. Er sah jung und traurig aus. »Ich habe keine Angst vor Schmerzen. Du?«
    Als Fancy nicht antwortete, sagte er: »Ich weiß, dass du sprechen kannst. Du hast in Cherry Glade mit mir gesprochen, weißt du noch?« Als Fancy immer noch nicht antwortete, nahm er ihre Hand, und mit seinem roten Pinsel schrieb er »Bitte« auf ihre

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