Blutskinder
hinunter auf das Heer der Einkaufenden, auf die Frauen mit den Kinderwagen, die Büroangestellten, Autos, Taxis … Sie alle konnten ihren Geschäften nachgehen, ohne bedroht und eingeschüchtert zu werden. Als er an Jenna und Ruby dachte, die beide unter Nachstellungen und Schikanen gelitten hatten, schnürte ihm das schlechte Gewissen beinahe die Kehle zu. Er drehte sich um, ging zu Mary hinüber und zog seinen Sessel noch dichter an sie heran. Nachdem er sorgsam die Bügelfalten seiner maßgeschneiderten Hose hochgezogen hatte, setzte er sich und nahm ihre Hand. Dabei klingelten alle Alarmglocken in seinem Kopf. Er konnte geradezu hören, wie sich Den aufregen würde, wenn er von der Dummheit seines Partners erfuhr. Er sah sich selbst, wie er seine Habseligkeiten zusammenpackte und sein Büro räumte – die vornehme, kostspielige Zimmerflucht, die er und Den sich nur mit Mühe leisten konnten. Doch dann tauchte Ruby in ihrer alten Schuluniform vor seinem inneren Auge auf, wie sie von den Nachwuchs-Jed-Bowmans dieser Welt drangsaliert wurde. Genau wie Mary war auch sie ein Opfer gewesen, bis er die Sache in die Hand genommen und sie zu einer anderen Schule gebracht hatte. Und dann Jenna, die er so lange mit seinem Misstrauen und seiner Eifersucht verfolgt hatte, bis sie es nicht mehr aushielt. Dabei spielte es gar keine Rolle, dass sein Verdacht begründet gewesen war. Noch bevor sie die geringste Chance gehabt hatte, sich zu verteidigen, hatte er Jenna zum Tode verurteilt. Er hatte sich zum Richter über Leben und Tod aufgeschwungen. Robert schüttelte den Kopf, um die quälenden Gedanken loszuwerden, die jetzt und hier nichts zu suchen hatten.
»Erzählen Sie mir alles, Mary. Von Anfang an.«
Mary senkte den Kopf. Bevor sie begann, bat sie um ein Glas Wasser.
11
R
obert verließ früh das Büro. Seit Mary Bowman einige Stunden zuvor gegangen war, hatte er sich nicht mehr richtig konzentrieren können. Ihr Besuch hatte tief in seinem Innern gewisse Dinge wieder aufgewühlt, die er so gern vergessen wollte.
Als er aus der Tiefgarage fuhr, blendete ihn die Sonne. Bevor er sich in den fließenden Verkehr einfädelte, tastete er im Handschuhfach nach seiner Sonnenbrille. Der schwülwarme Nachmittag war nicht dazu angetan, seine Laune zu heben. Auf seinem Gesicht und den Unterarmen, wo die Haut noch kühl war von der klimatisierten Büroluft, bildete sich sofort ein Schweißfilm. Der Verkehr geriet ins Stocken. Robert durchsuchte mehrere Radioprogramme, fand jedoch keine Musik, die zu seiner Stimmung passte. Mit einem Knopfdruck schloss er das Verdeck seines Mercedes. Ihm war danach, sich einzuigeln.
»Zuhause«, blaffte er in seine Telefonanlage. Er hörte, wie gewählt wurde, dann ertönte immer wieder das Freizeichen. Erin hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten. Nun, da er wusste, dass niemand zu Hause war, konnte Robert in Ruhe seinen Plan ausführen. Aus diesem Grund hatte er das Büro so früh verlassen – und natürlich, um Den aus dem Weg zu gehen. Sein gerissener Partner hätte bestimmt spitzgekriegt, dass sich Robert mit der gegnerischen Partei unterhalten hatte.
Robert machte sich immer noch Gedanken wegen Rubys Geburtsurkunde. Unter normalen Umständen hätte er dieses Unbehagen verdrängt, doch die Tatsache, dass sich Erin so hartnäckig weigerte, Ruby einen Pass ausstellen zu lassen, hatte seinen Argwohn erst richtig angefacht. Warum war Erin von Anfang an gegen Rubys Klassenfahrt gewesen? Hatte sie Angst um ihre Tochter? Hielt sie Ruby mit ihren dreizehn Jahren für zu jung, um ohne Eltern ins Ausland zu reisen? War ihre eigene Flugangst der Grund? Oder was steckte sonst dahinter?
Vielleicht fürchtete Erin unliebsame Erinnerungen an ihren Verflossenen, wenn sie seinen Namen auf der Urkunde sah. Es konnte durchaus sein, dass Ruby gar nicht wusste, wer ihr Vater war – schließlich hatte Erin ihn nie erwähnt – und dass Lucas nicht ihr richtiger Name war. Erins Verhalten konnte viele Gründe haben, doch eines war sicher: Robert musste unbedingt die Wahrheit herausfinden. Nicht noch einmal wollte er eine Ehe durch sein krankhaftes Misstrauen aufs Spiel setzen. Sobald er wusste, woran er war, bestand keine Gefahr mehr, dass der Argwohn, der unablässig unter der Oberfläche brodelte, wie ein Vulkan ausbrach und alles zerstörte. Doch wie er die Wahrheit herausfinden sollte, ohne dass Erin es merkte, war eine andere Frage.
Um zehn nach drei hielt Robert vor seinem Haus. Im
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