Blutskinder
Sonnenlicht wirkte das dreistöckige Gebäude ein wenig schäbig. An manchen Stellen blätterte die schwarze Farbe von den Fensterrahmen ab, und hier und da hatten undichte Rohrleitungen feuchte Flecken auf dem ursprünglich cremeweißen Mauerwerk hinterlassen.
Robert schloss den Mercedes ab und schaute noch einmal auf die Uhr. Ruby würde in ungefähr einer halben Stunde nach Hause kommen und vergnügt die Schultasche im Flur fallen lassen, bevor sie sich über den Kühlschrank hermachte. Dann würde sie Klavier spielen oder in ihr Zimmer gehen und Hausaufgaben machen. Sie hatten Ruby mittlerweile für den Schulbus angemeldet, mit dem etliche Schüler aus der Nachbarschaft nach Hause gebracht wurden. Erin würde kaum vor sechs nach Hause kommen, aber er musste auf jeden Fall vorsichtig sein.
»Ruby? Erin?«, rief er sicherheitshalber, während er die Wohnungstür aufschloss und seine Aktentasche abstellte. Als er den schweren, süßen Duft der Freesien roch, die auf dem Marmortisch im Flur standen, blieb er für einen Augenblick stehen. Er musste daran denken, mit welcher Sorgfalt Erin die Blumen am Morgen arrangiert hatte. Blumen waren ihre Leidenschaft, besonders schlichte Bauernblumen in Weiß und Crème. Der Blumenladen war ihr ganzer Stolz und sie führte ihn mit großem Erfolg. Erin war sehr fleißig und zielstrebig in allem, was sie anpackte. Robert war erstaunt gewesen, als er hörte, dass sie keine akademische Ausbildung besaß. Wenn sie einmal eine Meinungsverschiedenheit hatten, neckte er sie mit der Bemerkung, was für eine hartgesottene Anwältin sie doch abgeben würde.
Trotz der ungewohnten Stunde nahm Robert im Wohnzimmer eine Flasche aus dem Barfach und schenkte sich einen großzügig bemessenen Whisky ein. Er hatte sowieso ein derart schlechtes Gewissen, dass er sich körperlich unwohl fühlte. Da war es wirklich gleichgültig, ob er sich ganz allein am helllichten Tag einen Drink genehmigte.
»Du lieber Himmel«, sagte er zu sich selbst, »es ist doch bloß ein Drink. Und es ist ja nicht so, als ob Erin eine Affäre hätte.« Robert kippte den Whisky hinunter und schenkte sich gleich noch einen ein. Dann stand er einen Augenblick lang einfach da und drehte das Glas in den Fingern. Das geschliffene Kristall war ein Hochzeitsgeschenk von Jennas Eltern gewesen. Als hätten seine Erinnerungen sie zum Leben erweckt, glaubte er plötzlich, durch das Erkerfenster Jennas Gesicht zu sehen. Das Bild war unscharf wie ein verwaschenes Aquarell. Doch als er genauer hinschaute, war es fort. Nur ein paar Sonnenstrahlen fielen fächerförmig ins Zimmer. Ärgerlich über sich selbst zuckte er mit den Schultern und stieg die Treppe hinauf. Für Geister aus der Vergangenheit war jetzt keine Zeit.
Vor kurzem hatten sie die beiden ehemaligen Speicherräume in Arbeitszimmer umgewandelt. Hier erledigte Erin ihren Papierkram für den Laden, und Robert arbeitete in seinem Zimmer oft Akten durch, die er aus der Kanzlei mitbrachte.
In Erins Büro schaltete er ihren Computer ein und wartete ungeduldig, bis sich das Gerät hochgefahren hatte.
»Endlich«, seufzte Robert mit einem erneuten Blick auf seine Uhr. Er öffnete das Inhaltsverzeichnis der Festplatte und warf einen Blick auf Erins Datensätze und Softwareprogramme. Unschlüssig klickte er sich durch übersichtlich organisierte Ordner und Buchhaltungsdateien, ohne zu wissen, wonach er genau suchte.
Dann öffnete er Outlook Express und ordnete Erins Mails nach dem Absender. So konnte er feststellen, ob sie mit jemandem besonders viele Mails ausgetauscht hatte. Immer wenn der Absender ein Mann war, überflog Robert die Nachricht. Meist ging es um den Großeinkauf von Blumen oder darum, dass eine Lieferung nicht rechtzeitig eingetroffen war. In einer Mail kündigte der Vermieter des Ladens eine Mieterhöhung an; andere Nachrichten hatten Erin und Ruby einander zum Spaß geschickt. In einer von ihnen sprach Ruby so begeistert davon, was für ein liebevoller Vater Robert sei, dass ihm vor lauter schlechtem Gewissen ganz elend zumute wurde. Aber Ruby und seiner Ehe zuliebe musste er Gewissheit haben.
In Erins E-Mails fanden sich keine interessanten Hinweise in Bezug auf sein Problem, doch sie zeigten Robert, wie hart seine Frau für ihren Laden arbeitete. Es war nicht leicht, ganz allein ein Geschäft zu führen, doch Erin meisterte alles mit ihrer gewohnten Tüchtigkeit. Robert gab sich noch immer nicht zufrieden. Er durchsuchte jede einzelne Datei auf Erins
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