Blutskinder
er und schaute sich noch einmal Erins Bild an. Mit einem leisen Lächeln studierte er ihre Züge. Mit ungefähr Anfang oder Mitte zwanzig war sie ein ziemlich unscheinbares junges Ding gewesen, das so mürrisch dreinblickte, als sei es eine unerträgliche Zumutung, für ein Foto zu posieren.
Seit er Erin kannte, hatte sie ihr Haar noch nie lang oder mit einem Pony getragen. Sie ging regelmäßig zum Friseur, um sich ihre modische Kurzhaarfrisur nachschneiden und die aschblonde Tönung auffrischen zu lassen. Auch Pausbacken und das auffällige Make-up gehörten eindeutig der Vergangenheit an. Heute war Erin mindestens sechs bis sieben Kilo leichter und fast immer ungeschminkt.
Robert musste daran denken, wie sehr sich sein eigenes Passbild von seinem gegenwärtigen Aussehen unterschied. Mit einem Lachen klappte er den Pass zu und legte ihn wieder in die Kassette. Damit konnte er nichts anfangen. »Was haben wir denn hier sonst noch?«, fragte er betont beiläufig. In Wahrheit fürchtete er immer noch, dass Ruby ihrer Mutter alles erzählen könnte. Oder dass Erin ebenfalls vorzeitig auftauchte und ihn auf frischer Tat ertappte. Rubys Geburtsurkunde fand er nicht. Er beschloss, die Nachforschungen ein andermal fortzusetzen, wenn er allein im Haus war.
Die Nachforschungen fortsetzen, sagte er in Gedanken vor sich hin. Er dachte an Louisa und ihre Joggingrunde am vergangenen Wochenende. Vielleicht sollte er sie anrufen und sich bei ihr entschuldigen. Aber was würde das nutzen? In ihrer Beziehung gab es keinen Platz für Reue und Entschuldigungen.
Sie sahen sich so selten, dass bei jedem Treffen die Probleme und Fragen vom letzten Mal schon wieder vergessen waren. So machten sie immer wieder reinen Tisch. Er überlegte, ob Louisa ihm wohl helfen konnte, eine Geburtsurkunde für Ruby zu besorgen. Immerhin war sie Detektivin und hatte viele Verbindungen.
Robert sah zu, wie Ruby die Kassette abschloss, den Schlüssel wieder unter den Teppich legte und die kleine Kiste behutsam in den Raum hinter der Schublade zurückstellte. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er sich später noch einmal in dieses Zimmer schleichen und sich Erins Papiere genauer ansehen wollte. Schließlich hatte er sich ja bereits davon überzeugt, dass keine Geburtsurkunde von Ruby dabei war. Die anderen Dokumente waren offensichtlich privat, sonst hätte Erin sie nicht so gut versteckt.
»Wie wäre es, wenn wir zu Luigi was Kaltes trinken und ein Stück Kuchen essen gehen? Ich lade dich ein.« Beim Sprechen starrte Robert an die Decke. Er verachtete sich selbst.
Doch Ruby lächelte fröhlich. Sie liefen zusammen die Treppe hinunter und verließen das Haus. Luigis Café war nur ein paar Häuser weiter, und Rubys Hausaufgaben konnten warten.
Robert fand einen freien Tisch vor dem Lokal. Er bestellte Erdbeershakes und Plundergebäck. Er war sich bewusst, dass er immer noch eine Whiskyfahne hatte, auch wenn es Ruby anscheinend nicht aufgefallen war.
Robert fühlte sich elend. Seine Schuldgefühle und dazu die noch immer glühende Sonne, die durch die Smogschichten drang, verursachten ihm bohrende Kopfschmerzen. Sein Plan, heimlich in Erins privaten Papieren zu schnüffeln, erinnerte ihn fatal daran, wie beim letzten Mal alles begonnen hatte. Was würde Louisa wohl zu seinem Vorhaben sagen? Bestimmt würde es ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen, wenn er es ihr erzählte. Robert blinzelte heftig und nippte an seinem Erdbeershake.
»Weißt du was?«, fragte Ruby. Sie hockte auf der Kante ihres Bistrostuhls, rührte mit dem Strohhalm in ihrem Glas und hielt die Augen gesenkt.
»Was denn?« Robert brachte ein Lächeln zustande, obgleich der Schmerz immer stärker hinter seinen Schläfen pochte.
»Ein Junge an meiner Schule findet mich nett. Er will sich mit mir treffen.«
Robert wusste, dass ihr dieses Geständnis ebenso schwerfiel wie ihm, Erin seine Schnüffelei zu beichten.
»Das ist ja toll, Liebes! Wie heißt er denn?« Er schlug einen erfreuten Ton an, auch wenn ihm klar war, dass die ganze Geschichte in ein paar Monaten mit Liebeskummer enden würde. Während er Ruby die Hand tätschelte, musste er an seine eigenen ersten, unbeholfenen Annäherungsversuche als Teenager denken. Außerdem schoss ihm wieder einmal die Frage durch den Kopf, wer wohl Rubys Vater war und was er sagen würde, wenn er seine große Tochter jetzt sehen könnte.
»Er heißt Art und ist zwei Klassen über mir«, antwortete Ruby. »Er spielt in einer
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