Blutskinder
Computer und überprüfte die Liste mit den Internetadressen, die Erin in letzter Zeit angeklickt hatte. Hin und wieder nippte er an seinem Whisky und lockerte seine Krawatte. Hier unter dem Dach war es heiß und stickig, daher nahm er sich die Zeit, um ein Kippfenster zu öffnen. In dem Moment erstarrte er. Jemand kam die Treppe herauf. Erschrocken blickte Robert auf die Uhr, bevor er in Panik alle Stecker aus den Steckdosen zog. Mit einem Pfeifen schaltete sich der Computer aus und der Bildschirm wurde schwarz. Im gleichen Augenblick trat Ruby ins Zimmer.
»Oh«, sagte sie von der Tür her, »ich dachte, du wärst Mum. Ich habe jemanden hier oben gehört.« Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. Offensichtlich war sie irritiert, dass sich Robert im Arbeitszimmer ihrer Mutter aufhielt. Robert mochte sich gar nicht ausmalen, was Erin erst dazu sagen würde.
»Ich bin’s nur.« Beim Ausatmen roch Robert seine Whiskyfahne.
»Und was machst du hier?«, fragte Ruby herausfordernd. Sie hörte sich beinahe an wie Erin, dachte Robert. Wenn er verhindern wollte, dass Ruby ihrer Mutter etwas erzählte, musste er sich auf der Stelle eine plausible Erklärung einfallen lassen.
»Ich suche nach deiner Geburtsurkunde.« In seinem Beruf hatte Robert gelernt, rasch zu denken. »Ich brauche sie, um dir einen Pass machen zu lassen. Du willst doch mit nach Wien fahren, oder?«
»Na klar!« Rubys Gesichtszüge entspannten sich und nahmen wieder den üblichen arglosen Ausdruck an.
»Hattest du schon jemals einen Pass, Ruby?« Robert erhob sich vom Schreibtischstuhl, ging zu seiner Stieftochter hinüber und drückte sie kurz an sich.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie achselzuckend. »Auf jeden Fall bin ich noch nie geflogen.«
»Du bist heute aber früh zu Hause!« Robert versuchte, sich seine Enttäuschung über die Störung nicht anmerken zu lassen.
»Das Tennisturnier wurde abgesagt. Die von der anderen Schule konnten nicht, und deshalb durften wir früher gehen, um für die Abschlussklausuren am Ende des Schuljahres zu üben. Ich bin mit dem Minibus gekommen.«
Sie trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Offensichtlich erwartete sie, dass er mit ihr schimpfen würde, weil sie den öffentlichen Bus genommen hatte. Wenn er ihr das durchgehen ließ, würde sie ihm umso bereitwilliger helfen, dachte Robert. »Weißt du, wo deine Geburtsurkunde ist, Ruby?«
»Ich habe noch nie eine gesehen, aber ich weiß, dass Mum solche Sachen hier drin versteckt.« Ruby ging zu Erins Schreibtisch, der wie ein antiker französischer Sekretär aussah, in Wahrheit aber als moderner Computerarbeitsplatz konstruiert war. Zu Roberts Verblüffung zog sie zielstrebig die mittlere Schublade ganz heraus. Dann kniete sie sich hin, tastete in dem leeren Raum herum und zog schließlich stolz eine abgenutzte schwarze Geldkassette hervor. Ruby stellte sie auf den runden Teppich, der einen Teil der farbig gestrichenen Dielen bedeckte, zog einen kleinen Schlüssel unter dem Teppich hervor und schloss die Kassette auf. »Du erzählst doch Mum nichts davon, oder?« Mit gerunzelter Stirn blickte sie kurz zu Robert hoch, bevor sie den Deckel anhob. »Ich habe mal gesehen, wie sie die Kiste herausholte und etwas hineinlegte. Sie hat nicht gemerkt, dass ich sie beobachtet habe, und wäre bestimmt sauer, wenn sie es wüsste.« Robert bemerkte ein leichtes Zucken unter ihrem linken Auge. »Aber ich habe nicht reingeschaut. So etwas würde ich nie tun.«
Robert kauerte sich neben seine Stieftochter. Wie gebannt starrte er auf die Metallkassette, als sei sie ein Schatz aus einem Pharaonengrab. Er tätschelte Ruby den Rücken. »Keine Angst, Ruby. Das bleibt unser Geheimnis.«
Ruby hob den Deckel hoch. »Siehst du? Ich hatte recht. Da sind alle möglichen Papiere drin. Und schau nur, Mum hat einen Pass. Also darf ich ja wohl auch einen haben.«
Ruby zog einen Schmollmund und wedelte mit dem Pass über ihrem Kopf herum. Sie fand es ungerecht von ihrer Mutter, dass sie sie nicht mit auf Klassenfahrt gehen lassen wollte!
»Na, das ist ja immerhin etwas.« Robert versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Er nahm Ruby den Pass aus der Hand und schlug ihn auf der Seite mit dem Foto auf. Er stellte fest, dass er noch nicht lange abgelaufen war.
Beim Weiterblättern sah er, dass das Dokument selten benutzt worden war. Nur ein paar verblichene Marken zeugten von lange vergangenen Reisen nach Spanien und Griechenland. Wahrscheinlich Urlaubsreisen, dachte
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