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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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besucht mich einmal die Woche. Das ist uns beiden mittlerweile ein Bedürfnis. Ich lege ihr jedes Mal umsonst die Tarotkarten und schwindele ihr etwas vor, um ihr ein bisschen Mut zu machen. Sie hat ihrem Vater noch nicht erzählt, dass sie ein Baby erwartet. Da kann man mal sehen, wie viel Aufmerksamkeit er seiner schönen Tochter schenkt, denn ihr Bauch geht auf wie ein Hefekuchen.
    Diesmal will sie am Samstag um sechs kommen. Ihr Vater und ihre Brüder gehen zu einer Familienfeier, zu der sie, wie es sich für Aschenputtel gehört, nicht eingeladen ist.
    »Es ist nur für Männer«, erklärt sie mir, als endlich Samstag ist. Die letzte Woche zog sich hin; ich hatte kaum Kunden. Schon zwei Stunden, bevor sie kommt, mache ich mich fertig. »Ich bin froh, dass ich nicht mitgehen musste«, sagt Sarah. »Mir ist nicht besonders gut.«
    Ich führe sie zum Sessel und schalte einen Heizstab vom elektrischen Kamin an. Es ist so dunkel, als wäre die Sonne schon untergegangen, und ungewöhnlich kühl für Juni. Andy und ich hatten immer vor, den kleinen Kamin wieder so herzurichten, dass wir ein echtes Feuer mit Holz hätten machen können, aber wir sind nie dazu gekommen.
    Ich umfasse Sarahs Bauch mit beiden Händen und heiße ihr Baby willkommen. Sarah lächelt.
    »Ich kann seine Umrisse fühlen«, sage ich ihr. »Das hier ist sein Fuß und der Knubbel da könnte ein Ellbogen sein.« Als ich Sarahs Hand auf ihren Bauch lege, damit sie es selbst spüren kann, wird ihr Lächeln noch breiter. So kann ich sie glücklich machen. Und ich bin glücklich, weil wieder ein Baby im Haus ist. »Du wirst mich doch noch besuchen kommen, wenn er auf der Welt ist, oder?« Womöglich braucht sie meine Freundschaft ja nicht mehr, wenn sie ein Kind zum Liebhaben hat.
    »Ich möchte, dass du seine Patin wirst«, sagt sie. Da ist mir, als würde sich die Zimmerdecke öffnen und strahlend gelber Sonnenschein auf mein armseliges Leben fallen.

    Nach der Pressekonferenz ließen Andy und ich das Telefon und den Fernseher nicht aus den Augen. Sheila zog zu uns, ließ Don aber zu Hause. Vielleicht weil er Mitleid mit mir hatte, was ich ihrer Ansicht nach nicht verdiente.
    Am nächsten Tag stand unsere Geschichte auf den Titelblättern der meisten regionalen und überregionalen Zeitun­gen. Als sich jedoch abzeichnete, dass es so schnell keine Neuigkeiten – wie zum Beispiel eine Leiche – geben würde, verschwanden wir aus den Schlagzeilen und nach und nach rückten auch die Reporter vor unserem Haus ab.
    In den nächsten Tagen wurde der Fall noch am Rande in den Abendnachrichten erwähnt, und dann war Schluss. Eine Woche später brachten mehrere große Zeitungen noch einmal einen Folgeartikel mit Bildern von Natasha, doch bald hatte das Land uns vergessen. Nur die Polizei befasste sich noch mit uns.
    Wenn Natasha heil und unversehrt wieder aufgetaucht wäre, hätten die Medien wahrscheinlich einen Tag lang darüber berichtet, doch worauf sie wirklich scharf waren, war eine Leiche. Eine tote Natasha wäre die Sensation gewesen, doch so gab es wichtigere Nachrichten, zum Beispiel die Atomwaffen­lager der Russen.
    Sheila mit ihrer strengen Frisur und dem verkniffenen Mund war ziemlich kurz angebunden, aber sie half uns, die ersten Wochen nach Natashas Verschwinden zu überstehen. Sie kochte, machte sauber, kaufte ein, wusch die Wäsche, ging ans Telefon und wimmelte unerwünschte Besucher ab, damit Andy und ich in Ruhe trauern konnten, als nach und nach das letzte Fünkchen Hoffnung verlosch. Ende Februar, nach sieben Wochen ohne Natasha, war uns klar, dass wir unser Baby nie wiedersehen würden.
    Andy verlor seinen Job in derselben Woche, als ich merkte, dass sie mich verdächtigten, Natasha umgebracht zu haben. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Detective Inspector Lumley und Police Constable Miranda mich zum Verhör mitnahmen, bevor oder nachdem Andy wutentbrannt nach Hause kam und erzählte, sie hätten ihn gefeuert, weil er zu viel Zeit auf der Toilette verbrachte. Als ich die hellen Streifen auf seinen schmutzigen Wangen sah, wusste ich, dass er in der Toilette geweint hatte. Wir weinten beide jeden Tag, aber nicht voreinander und nicht aus demselben Grund.
    Schließlich ging Sheila wieder nach Hause, kam aber weiterhin regelmäßig vorbei, vor allem um Andy zu besuchen, und brachte eingefrorenen Eintopf oder Suppe mit. Auch an dem Tag, als man mich zum Verhör abholte, war sie unverhofft gekommen und hatte mir was zu essen gebracht, weil sie

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