Blutskinder
wusste, dass ich noch immer nicht einkaufen konnte. Aber als sie hörte, dass Andy nicht da war, wollte sie nicht hereinkommen.
Ein paar Minuten, nachdem sie gegangen war, klopfte es wieder an der Tür. Ich dachte schon, sie hätte es sich anders überlegt und wäre zurückgekommen. Vielleicht gab sie mir ja nicht länger ganz allein die Schuld am Verschwinden ihrer Enkelin. Voller Hoffnung lief ich zur Tür – ich sehnte mich so sehr danach, von Sheila geliebt zu werden –, aber es war die Polizei. Detective Inspector George Lumley und PC Miranda forderten mich mit ernster Miene auf, sie zu einem Verhör aufs Präsidium zu begleiten. Wieder einmal brach für mich eine Welt zusammen.
Ich durfte noch Schuhe und meinen Mantel anziehen und die Tür abschließen. Dann saß ich neben PC Miranda im Polizeiwagen. Am liebsten hätte ich sie bei den Schultern gepackt, an ihren Haaren gerissen, ihr das Gesicht zerkratzt, die Augen ausgestochen – nur damit sie sich an die Tage erinnerte, die wir unmittelbar nach Natashas Entführung miteinander verbracht hatten. Damals war sie meine Verbündete gewesen, die mir geholfen und mich getröstet hatte. Immer wieder hatte sie mir versichert, dass es eine Zukunft für mich gab, und einmal, als ich mich übergeben hatte und mein Haar ganz verfilzt war, hatte sie mich sogar gebadet. Damals hatte PC Miranda weit mehr getan, als sie musste. Jetzt tat sie nur ihre Pflicht.
»Wir verhaften Sie nicht, Cheryl. Der Detective Inspector möchte nur noch einmal hören, was an jenem Tag genau passiert ist.« Als PC Miranda mir das Knie tätschelte und mir gezwungen zulächelte, wusste ich, dass ich doch so gut wie verhaftet war.
Auf dem Revier brachten sie mich in ein Vernehmungszimmer und sagten, ich sollte warten. PC Miranda blieb bei mir, sprach aber kein Wort. Es war kalt, und der ganze Raum war grau in grau. Als sie sah, dass ich zitterte, holte sie mir eine grobe Decke. Die war auch grau. Sie gab mir eine Tasse Tee, aber ich konnte nichts trinken. Bin ich jetzt auf einmal eine Verbrecherin?, dachte ich.
DI Lumley kam mit einem anderen Polizisten zurück, den ich nicht kannte. Lumley war groß und hatte breite Schultern und ein ungeduldiges Gesicht mit erstaunlich zarten Gesichtszügen. Seine Augen sahen aus wie gelutschte Bonbons, und seine gebogene Nase war viel zu schmal für so einen kräftigen Kerl. Jetzt, wo er nicht mehr auf meiner Seite stand, gefiel er mir auch nicht mehr besonders.
PC Miranda führte mich zu einem Resopaltisch, die Polizisten setzten sich mir gegenüber. Sie hielten beide einen Notizblock in der Hand, und auf dem Tisch zwischen uns stand ein Kassettenrekorder. Einer von ihnen schaltete ihn ein und nannte das Datum und die Nummer des Falls und wer im Zimmer anwesend war. So etwas hatte ich schon mal in einem Krimi gesehen, wenn ein Verbrecher verhaftet wurde. Ich überlegte krampfhaft, was ich getan haben sollte, aber mir fiel nur ein, dass ich mein Baby verloren hatte.
Mein Baby verloren, mein Baby verloren … Immer wieder sagte ich es mir vor.
Vielleicht verhörten sie mich, weil ich fahrlässig gewesen war und den Wagen nicht abgeschlossen hatte. Vielleicht war es ja überhaupt ein Verbrechen, ein Baby allein im Auto zu lassen. Vielleicht war ich eine schlechte Mutter und verdiente es, eingesperrt zu werden.
»Es dauert nicht lange, Mrs Varney. Wir müssen nur ein paar Dinge klären über …« DI Lumley zögerte und warf einen Blick zu seinem Kollegen hinüber. »Über den Tag, an dem Ihr Baby entführt wurde. Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, und ich versichere Ihnen, dass einige meiner besten Männer an dem Fall arbeiten. Aber damit wir weiterkommen, brauchen wir noch ein paar Auskünfte von Ihnen.«
»Natürlich«, sagte ich. Meine Schultern waren gebeugt und schmerzten, egal wie ich mich hinsetzte. Seit Natasha nicht mehr da war, schien mein Körper zu schrumpfen und zu verdorren. Ich brachte zwar jeden Tag ein paar Bissen hinunter und trank auch etwas Wasser und Tee. Trotzdem standen meine Knochen hervor und taten so weh, als wollten sie im nächsten Moment zerbrechen. Außerdem fielen mir die Haare aus. »Ich werde versuchen, behilflich zu sein.«
»Kommen wir zunächst zu dem Babyschuh.« Lumley schaute seinen Partner an und nickte. Der andere Mann zog eine versiegelte Plastiktüte unter seinem Notizblock hervor. Darin lag Natashas gestrickter Schuh, den ich auf der Straße gefunden hatte. Er war ganz plattgedrückt und sah grauer
Weitere Kostenlose Bücher