Blutskinder
starrte Lumley mit kaltem Blick an. Wie konnte er es wagen! Man hatte mir mein Baby gestohlen!
»Vielleicht haben Sie sie ja geschüttelt, damit sie ruhig ist. Oder ihr das Kissen einige Sekunden zu lange aufs Gesicht gedrückt, damit Sie endlich ein paar Minuten Ruhe hatten.« Lumley beugte sich über den Tisch. Sein Atem roch nach Kaffee. »Ist es so gewesen, Mrs Varney?«
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und beugte mich ebenfalls vor, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Ich habe meine Tochter nicht umgebracht, wenn Sie das damit andeuten wollen, Detective Inspector. Und das Einzige, was mich davon abhält, Sie anzuschreien, ist die Tatsache, dass ich kaum noch den Willen zum Weiterleben aufbringe. Wenn Sie wüssten, wie viel Kraft es mich kostet, auch nur den nächsten Atemzug zu tun, würden Sie Ihre Anschuldigungen zurücknehmen. Und wenn Sie auch nur eine Spur Mitgefühl hätten, würden Sie mich nach Hause gehen lassen, damit ich zusammen mit meinem Mann trauern kann.«
Doch Lumley war unnachgiebig. »Trauern, Mrs Varney? Ist das nicht ein bisschen verfrüht? Es besteht immer noch die Hoffnung, dass wir Natasha wohlbehalten wiederfinden. Sie haben selbst gesagt, dass die Hoffnung Sie aufrecht hält.«
»Ja schon, ich meinte nur …«
»Die Vernehmung von Mrs Cheryl Varney wurde um siebzehn Uhr beendet.« Lumley erhob sich und blickte wie eine finstere Regenwolke auf mich herab. »Sie können jetzt gehen. Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe und werden Sie sofort benachrichtigen, wenn es etwas Neues gibt.«
Die beiden Polizisten verließen das Zimmer. PC Miranda ging mit mir in die Eingangshalle und sagte, dass mich ein Wagen nach Hause bringen würde. Ich wartete anderthalb Stunden vergeblich, dann rief ich ein Taxi. Ich fuhr nach Hause und legte mich schlafen.
Zwei Tage später stand Lumley mit drei anderen Polizisten um sechs Uhr morgens vor unserer Tür. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl. Zwölf Stunden lang sah ich zu, wie sie Schränke und Schubladen durchforsteten, Möbelstücke zerlegten und dabei Dinge fanden, die ich schon längst vergessen hatte. Sie krochen auf dem Dachboden herum und stöberten in alten Fotos und Büchern, dann wühlten sie in meinen Kleidern und meiner Unterwäsche und hielten sich erstaunlich lange in Natashas Zimmer auf, wo sie Sachen in verschiedene Beutel stopften.
Anschließend ging es im Garten weiter. Ich machte mir eine Tasse Tee und beobachtete vom Küchentisch aus, wie sie durch mein verwildertes Stückchen Grün krabbelten wie riesige Käfer. Es herrschte große Aufregung, als sie auf das Skelett unserer lange verstorbenen Katze stießen. Sonst fanden sie nichts.
Ich frage Sarah, was wohl ihr Vater dazu sagen wird, dass sie ihr Kind taufen lassen will. Sie meint, wenn es so weit ist, wäre sie schon längst aus der Familie verstoßen. Er würde von der Taufe also gar nichts mitbekommen. Sie hat sich dem Vater ihres Kindes zuliebe, der Engländer ist, für die Taufe entschieden. Jonathan ist in der Schule eine Klasse über ihr, sagt sie, und Jonathan ist nicht sein richtiger Name, so wie ihrer nicht Sarah ist. Trotzdem will sie mich weiterhin besuchen kommen, weil sie sich bei mir wohl fühlt.
»Wirst du mir denn den richtigen Namen deines Babys verraten?«
»Sicher«, erwidert sie und beißt in einen von meinen selbstgebackenen Scones. Ein paar Krümel fallen auf ihren gewölbten Bauch. Ich ärgere mich ein wenig darüber, dass Sarah mir nach sechs oder sieben Wochen noch immer nicht ihren echten Namen sagen will. Ich weiß, sie hat Angst, dass ich ihr Geheimnis ihrem Vater verrate, aber wenn seine Tochter mit einem Baby nach Hause kommt, weiß er es sowieso.
»Warum bringst du Jonathan nicht mal mit? Ich würde ihn gern kennenlernen.« Mit niedergeschlagenen Augen isst Sarah ihr Scone. Sie antwortet nicht.
Wir unterhalten uns eine ganze Weile lang und sehen fern, und dann hole ich ein paar Fotos aus dem unbenutzten Zimmer. Ich setze mich dicht neben Sarah und lege den Arm um sie. Weil sich ihre Schultern so knochig anfühlen, biete ich ihr noch ein Scone an. Ihr Baby soll doch nicht untergewichtig zur Welt kommen. Obwohl ihre Schwangerschaft schon weit fortgeschritten ist, sieht man ihr nicht sehr viel an. Eine ganz bestimmte Schachtel mit Fotos habe ich oben gelassen. Es sind die Bilder von Natasha.
»Hier sind Andy und ich im Urlaub. Wie ich da ausgesehen habe!«
»War er dein Mann?«, fragt Sarah.
»Ja, aber
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