Blutskinder
Er nahm den klebrigen Hörer ab und wollte gerade die Auskunft anrufen, als sein Blick auf ein halbes Dutzend rosafarbene, rote und schwarze Visitenkarten fiel, die an der Wand über dem Telefon hingen.
Heiße Massagen … Scharfe Krankenschwester … Domina … Dicke Titten … Exotische Mädchen … Blonde Mädchen … Junge Mädchen …
Die Worte verschwammen Robert vor den Augen. Auf einigen der angeschmuddelten Karten waren Mädchen abgebildet, die nicht viel älter aussahen als Ruby. Willkürlich riss er eine Karte ab und schaute sich das Foto näher an. Die stark geschminkte Frau, die hier ihren Körper anbot, schien älter als die anderen zu sein. Auf einmal verwandelten sich ihre Züge und er sah Erins Gesicht, glücklich lächelnd am Tag ihrer Hochzeit.
»Helena verwöhnt dich im privaten Ambiente«, las er leise. Trotz ihrer aufreizenden Pose und der dicken Schicht Makeup war Helena eine attraktive Frau mit einem wohlgeformten Körper.
Ohne nachzudenken wählte Robert ihre Nummer. Er war noch immer so betrunken, dass er gar nicht recht wusste, was er tat. Er wusste nur, dass er irgendeinen Menschen brauchte, der ihn tröstete und ihm Antworten auf seine Fragen gab. Womöglich war Helena dieser Mensch.
Robert rief ein Taxi und ließ sich zu Helenas Adresse bringen. Ihre Stimme hatte am Telefon angenehm geklungen, und sie war offenbar sehr darauf aus gewesen, sich diesen Kunden zu sichern. Auch Robert konnte es kaum erwarten, sie zu treffen. Doch die Gründe für ihrer beider Ungeduld hätten unterschiedlicher nicht sein können: Ihr ging es ums Geld, er suchte nach Erklärungen.
Während der Fahrt malte er sich aus, wie die Frau ihre Kleider abstreifte und in ihrem Boudoir zwischen seidene Betttücher glitt. Wie sie seine Sinne mit Vanille- und Moschusparfums kitzelte und sich alle erdenkliche Mühe gab, ihren Kunden zufrieden zu stellen – genauso wie es Erin wohl hunderte Male getan hatte.
»Macht dreizehn Pfund, Kumpel.« Der Taxifahrer hatte vor einigen Reihenhäusern gehalten und die Trennscheibe heruntergelassen. Robert bezahlte und stieg aus. Im strömenden Regen ging er bis zu Helenas Haustür und klingelte. Er fühlte sich schon jetzt beschmutzt.
Die Übergardinen vor den Fenstern waren zugezogen, obwohl es erst Nachmittag war, und die Eingangstreppe war mit Abfall und Zigarettenkippen übersät. Im Laufe der Taxifahrt war Roberts Kopf etwas klarer geworden, doch nicht klar genug, um den Rückzug anzutreten. Er musste um jeden Preis etwas über Erins früheres Leben in Erfahrung bringen.
Robert glättete mit den Händen sein nasses Haar. Unrasiert, wie er war, bot er vermutlich einen traurigen Anblick, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er brauchte ja keinen guten Eindruck zu hinterlassen. Da wurde die Tür geöffnet, und eine Frau in einem dunkelblauen Männerbademantel stand vor ihm.
»Robert Knight?«, fragte sie. Ihre Stimme war tief und rau. Sie hielt eine Zigarette in der Hand. Robert nickte. »Dann kommen Sie mal rein.« Es war nicht die Frau auf dem Foto. Das konnte unmöglich Helena sein.
Robert folgte ihr die Treppe hinauf nach oben. Im schummrigen Licht konnte er nicht viel erkennen, doch er roch Bier und hörte, dass irgendwo unten ein Fußballspiel im Fernsehen lief. »Hier rein«, sagte die Frau und ließ ihm den Vortritt.
»Nett, Sie kennenzulernen, Mr Knight«, sagte sie mit breitem Lächeln. »Mein Name ist Helena, wie Sie ja wissen.« Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen, wie um ihm zu verstehen zu geben, dass es kein Entkommen gab.
Doch Robert wollte gar nicht entkommen, ganz gleich, wie Helena aussah. Er brauchte sie – vermutlich dringender als ihre sonstigen Kunden –, denn er musste unbedingt etwas über das geheime Leben seiner Frau herausfinden. Dabei lag ihm nichts daran, sie zu berühren. Im Gegenteil, allein der Gedanke widerte ihn schon an. Worum es ihm ging, waren ihre Gedanken und Gefühle. Und ihre Beweggründe. Warum tat sie das hier?
»Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem.« Helena deutete auf das Bett und schob den Riegel vor die Tür.
Allmählich gewöhnten sich Roberts Augen an das Zwielicht. Obwohl die dunkelroten Nylongardinen zugezogen waren und nur eine Lampe brannte, sah er, dass das Zimmer klein und – abgesehen von dem Bett – lediglich mit einem Stuhl voller Kleider und einem hölzernen Garderobenständer hinter der Tür möbliert war. Mit Schaudern erkannte er, dass Peitschen, lederne Kleidungsstücke und mehrere
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