Blutskinder
verstehen sie. Sie sind nämlich alle Ausländerinnen.«
»Ich nicht«, widerspricht eine und tritt vor. »Hallo, Milly. Ich bin Maggie.« Sie kichert. »Milly und Maggie. Passt ja gut zusammen.«
Maggie sieht ein bisschen älter aus als ich. Sie trägt zerrissene Jeans und ein rotes T-Shirt, auf dem vorn steht »Ich vögle schon beim ersten Date«. Sie trägt ihr lockiges Haar zurückgebunden und hat dunkle Ringe unter den Augen und verschmierte Wimperntusche. Kann sein, dass sie hübsch ist.
»Hi«, sage ich. Ich kann mich noch gar nicht an den Namen Milly gewöhnen. Wenn ich nicht aus meinem Zimmerfenster gesprungen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, hätte ich wieder zur Schule gehen und meine Abschlussprüfung machen können. Und dann hätte ich einen Job annehmen oder zur Uni gehen oder heiraten können. Es ist schwer, sich allein durchzuschlagen. Ich will mein Baby wiederhaben. Ich glaube nicht, dass ich zurückkann.
»Milly hat ein Baby, und wir kümmern uns darum, bis es ihr wieder besser geht.« Auf einmal verwandelt sich Fredas runzeliges Gesicht in das blasse, gepuderte Gesicht meiner Mutter.
Wir kümmern uns schon um dein Baby …
Warum wollen mir bloß alle mein Kind wegnehmen?
»Milly braucht eine Bleibe«, fahrt Freda fort. »Sie wird bei uns arbeiten und du, Maggie, wirst sie anlernen.« Sie fasst mich bei den Schultern, als wolle sie mich hochheben und herumzeigen. Als sie mir einen Platz am Kopfende des Tisches anweist, tuscheln die anderen Mädchen miteinander. Sie sprechen wirklich eine fremde Sprache.
Maggie setzt sich ans andere Ende, worauf sich die sechs übrigen Mädchen zögernd in die Bänke schieben. Zwei von ihnen gehen hinaus und kommen gleich darauf mit einem gefüllten Kochtopf zurück. Nachdem Freda und Becco den Raum verlassen haben, fangen die Mädchen an, miteinander in ihrer Sprache zu schwatzen. Mich beachten sie gar nicht. Obwohl ich kein Wort verstehe, bin ich sicher, dass sie schlecht über mich reden. Ich breche in Tränen aus und werde schon wieder ohnmächtig.
Freda hatte recht. Nachdem ich ein paar Tage die Tabletten genommen habe, ist meine entzündete Brust wieder normal, außer dass sie alle paar Stunden fast platzt vor Milch, trotz der Tabletten, die ich dagegen einnehme. Aber zum Glück tut mir der Bauch nicht mehr weh. Heute hat Freda gesagt, dass sie mit mir neue Kleider kaufen gehen will, weil ich in meinen alten Klamotten unmöglich arbeiten kann. Ich trage immer dasselbe, seit ich hier bin; meine Unterwäsche wasche ich im Bad. Als Becco mich in dem kleinen Sträßchen fand, hat er die Sporttasche mit den großen Sachen dort stehenlassen. Ich hoffe, dass Freda auch was für Ruby kauft, damit sie was zum Anziehen hat, wenn es ihr wieder besser geht. Anscheinend ist sie im Krankenhaus, aber ich darf sie nicht besuchen, weil ich diese Infektion hatte. Ich vermisse sie sehr, tröste mich aber damit, dass man gut für sie sorgt. Keiner versteht, wie sehr ich mich nach meinem Baby sehne. So sehr, dass mir das Herz wehtut.
Becco schleicht durchs Haus wie ein krummer, knorriger Schatten. In jeder Ecke lauert er und hinter jeder Tür, und ich könnte wetten, dass er mich beim Pinkeln durch ein Guckloch beobachtet. Ich habe mich bei Maggie nach ihm erkundigt, aber sie hat nur gelacht und gesagt, dass ich ohne Becco kein Dach über dem Kopf und nichts zu essen hätte, wie so viele andere Obdachlose, die draußen in der Kälte leben müssten. Damit hat sie natürlich recht. Also kümmere ich mich nicht weiter darum, wenn sich Becco in einen finsteren Winkel drückt oder seine Augen durch einen Türspalt funkeln und sich sein Blick in meinen Rücken bohrt.
An einem klirrend kalten Winternachmittag gehen Freda und ich auf Einkaufstour. Ich fühle mich frei und ungebunden, auch wenn ich das Haus nicht ohne Begleitung verlassen darf. An meinem ersten Morgen versuchte ich die Haustür zu öffnen, doch sie war mit drei Vorhängeschlössern versperrt und zusätzlich noch mit einem Metallgitter gesichert. London ist ein gefährlicheres Pflaster, als ich dachte, und ich bin Freda und Becco dankbar, dass sie ihre Mädchen so gut beschützen.
Zweimal im Jahr ging meine Mutter mit mir was zum Anziehen kaufen, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst. Immer war Tante Anna mit ihrem scharfen Blick dabei. Ich wusste, es war zwecklos, mir etwas zu wünschen, was mir gefiel; es gab sowieso immer die gleichen vernünftigen festen Schuhe und
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