Blutskinder
sie mir bitte wieder!«
Er steht auf und geht weg. Dabei ruft er mir über die Schulter zu: »Was für ein Baby, Süße? Ich hab kein Baby gesehen.« Er schließt die Tür hinter sich ab.
In meinem Kopf formt sich ein stummer Schrei. Wie eine scharfe Klinge geht er durch mich hindurch und teilt mich für den Rest meines Lebens in zwei Hälften, auch wenn ich es zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß. Ich renne nicht zur Tür und trommele mit den Fäusten dagegen. Jedenfalls nicht sofort. Ich werfe mich auch nicht schluchzend zu Boden oder schlage eine Fensterscheibe ein und flüchte und mache mich auf die Suche nach meinem Baby. Ich habe ihn noch nicht einmal gefragt, wie er heißt oder wo ich bin. Schließlich bin ich nur eine Ausreißerin mit einem neugeborenen Kind. Da kann ich es mir nicht leisten, Fragen zu stellen.
Ich bin auf der Straße ohnmächtig geworden, und er hat mich gerettet und hierhergebracht, wo immer das auch sein mag. Es ist ganz nett hier, nur ein bisschen schäbig im Vergleich zu unserer Doppelhaushälfte, die meine Mutter so ordentlich hält, dass es schon steril wirkt. Der Mann kommt mir auch ganz nett vor, und ich könnte mir vorstellen, dass Freda in Ordnung ist. Ich hoffe, dass ich in ihrem Wohnheim bleiben darf und vielleicht auch mein Baby zurückbekomme.
Mir ist heiß, und meine Stirn klebt vor Schweiß. Ich erhebe mich mühsam und wanke zur Tür. Mit letzter Kraft rüttele ich an der Klinke und schlage mit den Fäusten gegen das Holz. Dann presse ich die Stirn gegen die abgeplatzte Farbe und schreie nach meinem Baby, bis mir die Stimme versagt. Ich lasse mich zu Boden sinken und überlege, ob es Tränen sind oder Blut, was mir da über die Wangen läuft. Dann wird es wieder schwarz um mich.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als mich jemand an der Schulter rüttelt. Ich öffne die Augen. Neben mir kniet eine Frau, und im ersten Moment denke ich, es ist meine Mutter. Aber dann fällt mir wieder ein, dass der dünne Mann mich von der Straße aufgelesen hat. Er ist aber nicht da, nur diese Frau, die nach süßlichem Parfum riecht. Jetzt erinnere ich mich wieder, dass sie mein Baby haben.
»Hallo«, sagt sie, »ich bin Freda.« Sie beugt sich so tief über mich, dass ich ihr in den weiten Ausschnitt schauen kann. »Wer bist du denn?«
»Wo ist mein Baby?«, flüstere ich. Ich habe es schon so oft gefragt, dass ich gar nicht mehr sicher bin, ob Ruby überhaupt existiert.
»Was für ein Baby, Schätzchen?« Ihre Worte flattern wie Schmetterlinge durch den Raum. »Du siehst aber gar nicht gut aus!« Sie holt ein Kissen und legt es mir unter den Kopf. »Jetzt sag mir mal, wie du heißt.«
Ich bin müde und fiebrig, ich zittere und habe Hunger, auch wenn ich nichts runterkriegen könnte. Ich bin krank und wund und verängstigt, aber ich bin nicht so blöd, ihr meinen richtigen Namen zu verraten. Schon im Zug habe ich mir überlegt, dass keiner wissen darf, wie ich heiße. Ich wette, meine Eltern haben der Polizei schon gemeldet, dass ich weggelaufen bin. Eine fünfzehnjährige Ausreißerin – das ist ein gefundenes Fressen für die Zeitungen und das Fernsehen. Bestimmt sind sie alle hinter mir her.
»Ich bin Milly«, sage ich und hoffe, dass es sich überzeugend anhört. Der Name Milly stand auf dem Namensschildchen eines Mädchens, das bei McDonald’s arbeitet. Sie war hübsch und trug Ringe und eine Halskette mit einem Kreuz. Sie lächelte und war nett zu mir, im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten.
»Das ist ein hübscher Name.« Freda zieht sich einen Schemel heran und setzt sich neben mich. »Becco sagt, er hat dich ohnmächtig auf der Straße gefunden. Wie kommt ein Mädchen wie du dazu, bei diesem Wetter draußen herumzulaufen?« Fredas Stimme ist wie heiße Schokolade. Als sie die Jacke auszieht, kann man ihr runzeliges Dekolleté noch besser sehen. Sie zündet sich eine Zigarette an. Im Schein der Feuerzeugflamme erkenne ich die Falten an ihrem Mund und den Augen. Ihr Haar ist kurz und grau, aber ganz glatt und nicht so spröde, wie graues Haar manchmal ist, und ihre Haut hat eine Farbe wie Räucherfisch. Fredas Augen sind ganz dunkel, man kann fast kein Weiß sehen. Sie kommt mir vor wie die gute Fee im Märchen.
»Weiß nicht«, antwortete ich und knabbere an den Nägeln. Das zumindest ist wahr. »Ich glaube, dieser Mann hat mein Baby irgendwo hingebracht. Könnten Sie ihn danach fragen?« Mein Herz hämmert zum Zerspringen.
»Wo wohnst du?« Sie macht einen
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