Blutspur des Todes
Er sah Jared aus glasigen Augen an, als sei er eben aus einem tiefen Schlaf erwacht und nicht etwa auf der Rückbank eines Saturn durch die Luft geflogen.
»Zieh den Overall aus!« herrschte Jared ihn an.
»Aber du hast gesagt …«
»Halt deine verdammte Klappe und beweg dich!«
Jetzt gehorchte Charlie. Melanie verhielt sich still und sah zu, wie sich ihr Sohn aus dem Overall schälte, das Halstuch abriss und beides aus dem Wagen warf. Dann rieb er sich das Gesicht mit beiden Händen und drückte die Finger mit solcher Kraft auf die Augen, dass sie sich fragte, ob er wegzuwischen versuchte, was er gesehen hatte. Als er sich schließlich mit einem weiteren Seufzer gegen die Rücklehne fallen ließ, war sein Gesicht mit hellen Streifen übersät, wo er sich mit den Fingern die Bräunungscreme abgerieben hatte.
»Nun macht schon!« rief Jared wieder. Er war ein Stück hinter dem Wagen in die Hocke gegangen und schien zwischen den Maispflanzen etwas in der Erde zu vergraben.
Melanie bemerkte, dass sie außer den Pflanzen um sich herum überhaupt nichts sah. Der Mais war zu hoch, um über ihn hinwegschauen zu können. Abgesehen von der Furche, den der Saturn in das Feld gepflügt hatte, sah sie weit und breit nur gelbgrüne Pflanzen und darüber den dunkelgrauen Himmel, aus dem es jeden Moment anfangen konnte zu regnen. Das Donnergrollen wurde lauter. Der Wind hatte aufgefrischt und pfiff durch die Reihen, dass die Stängel mit den langen Blättern und Kolben wogten, als hätten sie sich hier zu einem zornigen Tanz verabredet. Die Pflanzen waren beinahe reif, mehr gelb als grün und trocken genug, dass der Wind sie knistern und knacken ließ. Das unheimliche Geräusch und der bedrohlich dunkle Himmel ließen Melanie unwillkürlich frösteln.
Plötzlich musste sie daran denken, dass ihre Mutter bestimmte Geräusche für Vorboten eines drohenden Unglücks hielt. Dabei standen Vögel ganz oben auf ihrer Liste düsterer Vorzeichen. Melanie hörte die Krähen, die in einem schwarzen Schwarm über sie hinwegflogen, und ihr »Ka, Ka«
klang wie ein Schimpfen. Doch sie zogen rasch vorbei, und ihr Krächzen wurde von dem dumpfen Grollen des näher kommenden Unwetters und dem stärker werdenden Pfeifen des Windes übertönt. Da war aber noch ein anderes Geräusch, und das hörte sich gar nicht nach einem Gewitter an.
»Scheiße!« schrie Jared. Sie zuckte zusammen, noch bevor sie das Rotorgeräusch des Helikopters erkannte. »Wir müssen uns beeilen! Los, ab in das verdammte Feld! Und duckt euch!«
Da Melanie noch immer keine Anstalten machte, sich zu bewegen, riss er ihre Tür auf und zog sie an der Schulter, sodass sie halb aus dem Wagen fiel. Ihre Hände schürften über die trockene Erde des Ackers. Als sie auf die Beine kam, sah sie Jared zwischen den Maisstängeln verschwinden. Dicht hinter ihm humpelte Charlie. Sie folgte ihnen, und in ihrem Kopf bohrte der Gedanke, dass Krähen ein Omen für Unglück und Tod waren.
Dann fielen die ersten dicken Regentropfen.
24. Kapitel
16.25 Uhr
Nebraska Bank of Commerce
»Barnett.« Grace sprach aus, was Pakula dachte. »Und er war an meinem Haus.«
»Das lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen«, beschwichtigte er sie.
»Vince hat den Kies ausgesucht. Der Lieferant ist eine Firma an der Westküste.«
»Wir wissen nicht, ob es tatsächlich dieselben Steine sind. Warten wir ab, was Darcy herausfindet.«
»Ich weiß, dass es Barnett war.«
»Aber was hat er für einen Grund, so etwas zu tun? Warum sollte er die Identifizierung der Frau verhindern wollen, indem er ihr durch den Kiefer schießt und ihr Gebiss zerstört? Wir wissen doch, wer sie war.« Pakula lehnte mit verschränkten Armen an Graces Geländewagen. Entweder glaubte er nicht an ihre Theorie, oder aber seine Frage war eine Aufforderung an Grace, ihre Vermutung zu untermauern.
»Vielleicht ging es ihm ja gar nicht darum, Beweise zu vernichten. Vielleicht wollte er sich einfach nur über uns lustig machen. Uns quasi seine Visitenkarte wie auf einem Präsentierteller hinterlassen.«
»Er ist gerade erst vor zwei Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden.«
»Sie haben es selbst gesagt: Er ist mit einem Mord durchgekommen. Vielleicht glaubt er jetzt tatsächlich, nichts und niemand könne ihm etwas anhaben?«
»Vielleicht. Aber wäre er wirklich so dämlich? Ich kann das nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf und beobachtete, wie die Leichen aus der Bank herausgetragen wurden.
Grace blickte zum Himmel
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