Blutspur des Todes
zurück, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Vielleicht hatte es wirklich keinen Zweck.
Dies war die perfekte Umgebung, um einen Psychothriller zu schreiben, inklusive Blitz und Donnergrollen. Aber vielleicht konnte er es einfach nicht mehr. Und die Schuld dafür ließ sich wirklich nicht auf sein verletztes Schlüsselbein schieben.
Zugegeben, es schmerzte, wenn er schrieb, doch war das weit weniger hinderlich als sein Mangel an Einfallen.
Er starrte auf das flackernde Licht der Laterne, das über die leere Seite tanzte. In der Hütte hatte er nur eine kleine Lampe angelassen, nicht ahnend, dass es durch das Unwetter viel früher dunkel werden würde. Er wusste nicht, wie spät es war, aber genau deshalb kam er ja zum Schreiben hierher. Hier fühlte er sich losgelöst von Zeit und Raum.
Unterhalb der Veranda sah er den See im Schein der zuckenden Blitze aufleuchten. Das Unwetter hatte sich wie ein tiefschwarzer Schatten über die Umgebung gelegt. Nur auf der anderen Seite des Sees, drüben am Bootssteg, brannte einsam eine gelbe Lampe.
Im Wald rings um den See lagen rund ein Dutzend Hütten, doch wenn kein Licht brannte, konnte man sie nachts nicht sehen. Vermutlich waren sie vorgestern noch belegt gewesen.
Das lange Labor-Day-Wochenende im Spätsommer war für viele die letzte Möglichkeit, dem Alltag noch einmal zu entfliehen. Darin sahen die meisten Menschen wohl den eigentlichen Sinn des Tags der Arbeit. Bei ihm war das anders.
Seine Zeit begann am Tag danach, weil er die Abgeschiedenheit suchte. Allerdings hatte er ganz vergessen gehabt, wie dunkel es hier draußen wurde.
Er liebte die Stille, wenn er schreiben konnte, wenn er im Fluss war, nicht jedoch, wenn ihm die Sätze misslangen und er seinem Gehirn ein Wort nach dem anderen mühsam abtrotzen musste. In solchen Situationen lenkte sie ihn eher ab, weil er plötzlich Geräusche wahrnahm, die er sonst nicht beachtete – das Anspringen des Kühlschrankmotors etwa oder das Tropfen des Wasserhahns.
Draußen knackten und ächzten die Äste der Bäume. Vorhin noch hatte er die Nachtschwalben über dem See und die Zikaden gehört. Doch das Gewitter hatte sogar die Nachttiere zum Schweigen gebracht. Auch die Spinne verharrte reglos in ihrem Netz. Andrew fiel auf, dass der Hubschrauber verschwunden war. Eine Weile noch hatte er sein Brummen in der Ferne gehört, doch auch das war jetzt verstummt. Er war völlig allein. Keine üble Sache, auch wenn Tommy das anders zu sehen schien.
Während der letzten Jahren, seit Nora ihn verlassen hatte, war er viel allein gewesen. Er hatte es so gewollt, um sich ganz auf das Schreiben und seine anderen Verpflichtungen als Autor konzentrieren zu können. Er sagte sich, dass er nichts vermisse, eher im Gegenteil, denn er hatte sich oft ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn er Nora nicht genug Zeit widmete. Er genoss es, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Er brauchte die Freiheit, wegzufahren und sich für Wochen abzukapseln, ohne dass eine Frau ihm vorwarf, er schließe sie aus seinem Leben aus.
Er war in einer Familie aufgewachsen, in der das ständige Gezänk der Eltern um alles und jedes den Alltag bestimmt hatte. Er hatte sich damals ein Bett mit seinem älteren Bruder teilen müssen, der ihm nur widerwillig die beiden Schubladen in der gemeinsamen Kommode überließ. Seine jüngere Schwester hatte ihn verpetzt, sobald sie ihn in einem seiner Verstecke beim Lesen aufstöberte. Er war mit der ständigen Sehnsucht aufgewachsen, in Ruhe gelassen zu werden.
Endlich konnte er sich sein Leben so gestalten, wie es ihm gefiel, warum sollte er das wieder aufgeben? Und so sehr er Nora auch geliebt hatte, musste er doch zugeben – obwohl er sich selbst für diesen Gedanken hasste –, dass es schließlich eine Erleichterung gewesen war, als sie endlich ging. Er wusste nicht einmal genau, warum.
Unsinn, natürlich wusste er es. Seine Bindungsangst. Er hatte Angst, sich mit Haut und Haaren auf jemanden einzulassen, der ihn letztlich ja doch enttäuschen würde.
Inzwischen glaubte er, dass es seine Bestimmung war, allein zu leben. Aber dann war ihm Erin Cartlan begegnet, und auf einmal hatte er wieder gewusst, was ihm im Leben fehlte.
Er rieb sich die Schulter, richtete die Bandage und blickte ratlos auf den leeren Block. Der Donner hörte sich jetzt ganz anders an als vorhin. Aus dem Grollen in der Ferne war ein widerhallendes Krachen geworden. Den Regen bemerkte er erst, als der Wind feinen Sprühnebel auf die
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