Blutspuren
Kopf der Leiche erweist sich als eingetrocknete Fäulnisflüssigkeit, die dem verwesenden Leichnam entronnen ist. Ansonsten ist die Lage der Leiche ziemlich geordnet. Schleifspuren fehlen. Der Täter muß folglich kräftig genug gewesen sein, das Opfer zu tragen und vorsichtig abzulegen. Abwehrverletzungen und Kampfspuren sind ebenfalls nicht auszumachen.
Fragen stellen sich: Ist der Fundort mit dem Tatort identisch? Ist das Opfer dem Täter freiwillig gefolgt? Kannten sich beide? Wie verschaffte sich der Täter Zugang zu der verschlossenen Baracke? Stammt er womöglich aus dem Kreis der im Waldbad Beschäftigten? Bockelt ordnet seine Gedanken, weiß, welche konkreten Ermittlungen nun auf ihn warten.
Dr. Krüger entfernt unterdessen behutsam das rote Tuch, das den Kopf der Leiche umhüllt. In mehrfachen straffen Lagen sind um den Hals des Mädchens ein Strick und ein Bindedraht geschlungen, die tief in die Weichteile einschneiden. »Mögliche Todesursache Erdrosseln«, schlußfolgert der Gerichtsarzt fürs erste, ergänzt dann aber, »es könnte auch eine Sicherheitsdrosselung sein.« Bockelt versteht richtig. Der Täter kann, um ganz sicher zu gehen, nach der Tötung zusätzlich ein Drosselwerkzeug verwendet haben. Dann träfe unter Umständen eine andere Todesursache zu. Und die Todeszeit? Dr. Krüger will sich keinesfalls festlegen, schätzt angesichts der vergangenen winterlichen Temperaturen einen Zeitraum von mehreren Wochen bis Monaten. Die fortgeschrittenen Leichenerscheinungen lassen eben nur vage Aussagen zu. Ob das Mädchen sexuell mißbraucht oder gar vergewaltigt wurde, läßt sich ebenfalls nicht beantworten. Zwar zeigen Rock, Schlüpfer, Strumpfhalter und äußeres Genitale keine Auffälligkeit, aus der ein solcher Schluß gezogen werden könnte, doch ist dadurch eine Sexualtötung keineswegs auszuschließen. Nur die Obduktion kann zu einer sicheren Aussage führen. Bockelt inspiziert zunächst die Umhängetasche, die neben der Leiche liegt. Sie ist ebenso leer wie die Manteltaschen des toten Mädchens. Aber: Nach der Aussage des Vaters müßte Steffi Bibrach nach ihrem Frisörbesuch ein Restgeld in Höhe von etwa 12 Mark bei sich haben. Es liegt also nahe, daß der Täter sich dieses Geld angeeignet hat.
Weiterhin prüft Bockelt Schuhe und Mantel des toten Mädchens. An den Schuhspitzen, Absätzen und an der Rückpartie des Mantels klebt jede Menge eingetrocknetes Erdreich. Er überlegt: Wenn man ausschließen könnte, daß die an den Schuhen anhaftenden Erdspuren identisch mit dem Boden vor der Baracke sind, müßte das Opfer bis dorthin transportiert worden sein. Dann wiederum ist dies nicht der Tatort. Und wenn sich feststellen ließe, aus welchem Areal der näheren Umgebung des Waldbades dieses Erdreich stammt, könnte der Tatort möglicherweise sogar exakt bestimmt werden. Der Hauptmann konsultiert seinen Kriminaltechniker. Klar, mit dem Mikroskop läßt sich die Spur an den Schuhen mit einer Probe des Bodens vor der Baracke mineralogisch vergleichen. Doch ob das Ergebnis eines solchen Vergleichs Beweiskraft besitzt oder nur ein grober Hinweis ist, kann er nicht beantworten. Und auf die zweite Frage reagiert er nur mit einem resignierenden, verneinenden Lächeln. Dennoch: Bockelt läßt die Erdreichanhaftungen an der Bekleidung der Toten für eine Untersuchung im KTI ebenso sichern wie verschiedene Proben des Bodens im Außenbereich der Baracke.
Untersuchungen von Bodenproben für spurenkundliche Zwecke sind in der Kriminalistik schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Längst wußte man, daß Boden oder Erde mechanisch, chemisch und biologisch veränderte anorganische Bestandteile (Gesteine und Minerale), aber auch organische Substanzen, Pflanzen, Mikroorganismen und deren abgestorbenen Reste enthält. Hinzu kommen in Folge von Industrialisierung, Technisierung und Zivilisierung aber auch sogenannte Fremdbestandteile wie Baustoffe, Öle, Fasern, Chemikalien usw.
Die grundsätzliche Untersuchungsmethodik beruht auf einer mikroskopischen und mikrochemischen Analyse der tatrelevanten Spuren und Vergleichsproben. Ihr Zweck besteht im Nachweis einer möglichen Übereinstimmung. Trotz der in der Folgezeit einsetzenden rasanten Entwicklung der Analyseverfahren und der Labortechnik blieben die Untersuchungen hinsichtlich kriminalistischer Expertisen bis in die 60er Jahre eher eine Ausnahme. Das hatte zwei Gründe: Zum einen bestand die Auffassung, daß die Zusammensetzung des Bodes auf
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