Blutspuren
Suchziel mit Ausdauer und eiserner Disziplin zu verfolgen. Denn kein Quadratmeter Waldboden, kein Haus und kein Nebengebäude dürfen ihrem prüfenden Blick entgehen. Selbst am Samstag, dem 24. Dezember, wird die Aktion bis zum Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt. Doch alle Mühen sind vergebens.
Kurz vor Jahresende kommt von oben der Befehl, die Suchkräfte abzuziehen. Die Mordkommission soll sich auf breit angelegte Routineermittlungen beschränken. VP-Meister Hechtmann widmet sich fortan wieder seinen eigentlichen Aufgaben als ABV. Hauptmann Bockelt zieht sich mit einer sechsköpfigen Mannschaft in zwei Büros des VP-Kreisamts Dippoldiswalde zurück, um von dort die Schlacht gegen den großen Unbekannten zu führen. Er beharrt auf einer exakten Erfassung und Analyse der Personen- und Fahrzeugbewegung am Nachmittag des 15. Dezember 1960. Sein kriminalistisches Gespür lenkt ihn nämlich immer wieder auf die Version, Steffi Bibrach könne auf dem Weg von Dönschten nach Hause von einem unbekannten Kraftfahrer mitgenommen worden sein. Doch die Recherchen schleppen sich träge dahin.
Weitere Zeugen werden gehört. Zwar werden im Ergebnis der flächendeckenden Befragungsaktion einige Diebstähle, Betrügereien und Sexualdelikte aufgedeckt, doch zur Sache selbst kann niemand etwas beisteuern. Aus dem privaten Umfeld der vermißten Schülerin werden mehr als fünfzig Personen bezüglich ihres Alibis und möglichen Tatmotivs überprüft. Gleiches gilt für ebenso viele vorbestrafte Sexualtäter aus dem Kreisgebiet von Dippoldiswalde. Bald füllen unzählige Ermittlungsprotokolle die Aktenordner. Aber einen brauchbaren Verdachtshinweis auf eine Täterschaft gibt es nicht. Auch der unberechenbare Kommissar Zufall scheint in tiefem Winterschlaf zu liegen, sonst wäre der Leichnam des Mädchens schon längst entdeckt worden. Alles in allem: Bockelts Geduld wird viele Wochen lang auf eine harte Probe gestellt.
Erst zwei Monate später, es ist bereits Anfang März, tritt die lang erwartete Wende in dem Vermißtenfall ein. Auslöser sind die Saisonvorbereitungen im Waldbad Dönschten. In der wärmenden Frühjahrssonne wird dort emsig gemauert, gestrichen und gefegt. Das Schwimmbecken erstrahlt in neuem Glanz, die alten Trampelpfade weichen bequemen Pflasterwegen. Kurzum, die Relikte der vergangenen Saison und des Winters werden beseitigt. Zwei Arbeiter erhalten den Auftrag, die Gerätebaracke aufzuräumen. Weil dort eigentlich nur Werkzeuge, Schaufeln, Besen, Harken, Baustoffe und ausgediente Strandmöbel lagern, fällt ihnen der ungewöhnliche, nicht zu definierende Gestank in der Baracke sofort auf. Mit rümpfenden Nasen beginnen die Männer ihr ordnendes Werk. Doch schon bald entdecken sie etwas, das ihnen Sprache und Atem verschlägt: Zum Überwinterungsinventar der Baracke gehört nämlich auch ein Barren, der üblicherweise den Badegästen für ein gesundes Freiluftturnen zur Verfügung steht. Zwischen seinen Holmen liegt, flach zusammengeklappt, ein Liegestuhl. Einer der Männer hebt ihn an, dabei erblickt er einen Leichnam, der unverkennbar dabei ist, zu verwesen. Der Liegestuhl hatte ihn nahezu vollständig bedeckt.
»Ach, du große Scheiße!« stößt er hervor und lenkt damit die Aufmerksamkeit seines Kollegen auf sich. Entsetzt riskieren beide einen kurzen Blick: Ein Leichnam. Es scheint ein Mädchen zu sein, bekleidet mit einem blauen Wintermantel, das Gesicht mit einem roten Tuch eingehüllt. Lang ausgestreckt ruht der tote Körper auf dem Barackenboden. Neben ihm eine schwarze Umhängetasche.
Grauen schüttelt die Männer. »Das ist bestimmt die Kleine aus Falkenhain«, mutmaßt einer von ihnen. Sie stürzen aus der Baracke und benachrichtigen über Notruf die Volkspolizei. Ihren Anruf nimmt die Einsatzzentrale des VPKA entgegen. Die wiederum alarmiert Bockelt und beauftragt VP-Meister Hechtmann als den nächsten erreichbaren Ordnungshüter mit der Sicherung des Fundorts.
Die Mordkommission und eine Meute uniformierter und ziviler Obrigkeiten aus Dippoldiswalde sind eine dreiviertel Stunde später vor Ort. Kurz darauf ist auch der Dresdener Gerichtsarzt Dr. Krüger zur Stelle. Er und Bockelt untersuchen das tote Mädchen. Zunächst beurteilen sie die Gesamtsituation: Haarfarbe des Mädchens, seine Bekleidung, die neben ihm liegende Umhängetasche vermitteln ausreichend Hinweise, daß es sich tatsächlich um den Leichnam der vermißten Schülerin Steffi Bibrach handelt. Eine vermeintliche Blutlache neben dem
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