Blutspuren
intellektueller Struktur. Er arbeitet als Hilfsschlosser in einem Werk für Landmaschinen, zeichnet sich dort durch großen Fleiß aus. Auch in seiner Biographie zeigt sich die gräßliche Fratze des letzten Krieges: Der Vater und sein großer Bruder sind auf dem Schlachtfeld geblieben. Die Obhut lag seitdem in den Händen der Mutter. Die aber leidet schon lange an einer Tuberkulose und verbringt viele Wochen im Jahr in einem fernen Sanatorium. Karl wird unterdessen in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. Doch eine richtige Erziehung, den menschlichen Umgang mit anderen betreffend, findet so nicht statt. Meist sich selbst überlassen, kümmert sich niemand ernsthaft um das Seelenleben des Heranwachsenden. Schule empfindet er schon immer als lästig. Folgerichtig bricht er sie vorzeitig ab. Körperliche Arbeiten sagen ihm aber zu. Und Hilfsarbeiter werden überall gebraucht. Im Landmaschinenwerk fühlt er sich wohl.
Lange wohnt er noch gemeinsam mit seiner Mutter in einer viel zu kleinen Wohnung. Reibereien sind vorprogrammiert. Daß er die wenigen Quadratmeter mit ihr teilen muß, verdrießt ihn schon lange. So ist es nicht verwunderlich, wie der auf Gegenseitigkeit beruhende Wunsch nach Selbständigkeit, Wärme und Geborgenheit, aber auch ein überschäumendes Liebesverlangen, die jungen Leute, Rosi und Karl, schnell zusammenführt. Das Resultat läßt nicht lange auf sich warten: Rosi wird mit 19 Jahren zum ersten Mal schwanger. Noch ehe ein Jahr vergeht, gibt sie Karl offiziell das Jawort und bezieht mit ihm die kleine Behausung seiner Mutter.
Doch die Ehe steht von Anbeginn unter einem ungünstigen Stern. Die klaustrophoben Wohnbedingungen führen bereits bei geringen Anlässen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den jungen Eheleuten. Überdies verhält sich Karl zu dem Baby ziemlich unterkühlt. Rosi fühlt sich überfordert, die Pflichten im Haus mit denen einer Tätigkeit als Zeitungsausträgerin in Einklang zu bringen. Schließlich gibt sie die morgenstundliche Arbeit bei der Post auf und widmet sich fortan dem Hausfrauendasein.
Trotz der ehelichen Querelen: Auf der gemeinsamen Matratze verstehen sich Rosi und Karl so prächtig, daß im Jahre 1952 ihr zweites Kind geboren wird. Die Familie erhält eine kleine Wohnung, in der sie zwei Jahre lang lebt, bis 1954 das dritte Kind unterwegs ist. Ein erneuter Umzug wird notwendig. Bereits zwei Jahre später erblickt das vierte Kind das trübe Licht dieser Welt. Und so geht es fort, bis im Jahre 1962 bereits das achte Kind geboren wird. In der zuständigen Abteilung Wohnungswesen beim Rat der Stadt Weimar hat man alle Hände voll zu tun, der Familie immer wieder eine noch größere Wohnung zuzuweisen.
All dies ändert nichts daran, daß die inneren Verhältnisse im Hause Hempel von einem einzigen Chaos bestimmt werden. Ein konzeptionsloser, kontroverser, auf maßlose Züchtigung basierender Erziehungsstil und chronische wortgewaltige Duelle zwischen den Eheleuten, die gelegentlich sogar mit einer gewaltsamen Reduzierung des Inventars einhergehen, kennzeichnen das Familienklima. Ihm sind die Kinder als Zeugen bzw. direkt Betroffene ausgesetzt. Verhaltensstörungen sind das Ergebnis. Folgerichtig ertönt das nicht enden wollende Klagelied der Schulbehörde. Inzwischen gehen nämlich sechs Kinder der Familie, denen Disziplinlosigkeit, schlechte Leistungen, Schulschwänzen und äußere Verwahrlosung gemeinsam ist, in die gleiche Schule.
Inzwischen haben die gestrengen Damen des Referats Jugendhilfe bereits ein wachsames Auge auf das Ehepaar Hempel und deren Kinder gerichtet. Längst sind die Auffälligkeiten der Kinder und die permanenten ruhestörenden Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten in dicken Aktenordnern bürokratisch exakt erfaßt. Die Behörden wittern nicht zu Unrecht die Gefahr einer Fehlentwicklung der Kinderschar.
Im Jahre 1964 schließlich, als Rosi Hempel von ihrem neunten Kind entbunden wird, wohnt die Großfamilie bereits in einer geräumigen Doppelhaushälfte im Westen Weimars, genauer gesagt in der Martersteigstraße. Deren Namen geht auf einen in der Gründerzeit bekannten Theatermann und Sohn der Kunststadt Weimar, den Schauspieler, Intendanten und Theaterhistoriker Max Martersteig zurück.
Aus der Verordnung »zur Verbesserung der Lebenslage von Familien mit 4 und mehr Kindern durch die Bereitstellung geeigneten Wohnraumes und Gewährung von Mietzuschüssen und anderen Zuwendungen« vom 3. Mai 1967:
§ 1 Maßnahmen zur
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