Blutspuren
Dosis könne bereits mit dem silbrigen Inhalt von etwa zehn Fieberthermometern erreicht werden. Jedoch verwirft sie diesen Gedanken. Die Ursache für den Sinneswandel liegt aber nicht darin, daß sie in Erfahrung gebracht hätte, metallisches Quecksilber würde keineswegs die erwartete Wirkung zeigen, vielmehr ungehindert Karls Verdauungsorgane passieren. Nein, ihr scheint vielmehr die Beschaffung der Thermometer zu auffällig zu sein.
Bald darauf treibt sie ein Röhrchen mit zwanzig Tabletten »Neo-Secatropin« auf. Es ist ein wirksames Beruhigungsmittel, das in hoher Dosis durchaus ein Leben auslöschen könnte. Bereits der Test an der Katze hatte es bewiesen. Rosi Hempel pulverisiert das Medikament und instruiert ihre Söhne Sebastian und Uli. Termin und Ablauf des Szenarios werden festgelegt.
Als am vereinbarten Tag der Vater heimgekehrt ist und sich wie gewöhnlich in die Küche begibt, um einen starken Kaffee aufzubrühen, beschäftigt sich Rosi in der oberen Etage betont übereifrig mit irgendwelchen Hausarbeiten. Mit gespitzten Ohren und hellwachen Sinnen verfolgt sie die Vorgänge im Parterre. Uli hat sich in der Nähe der Küche in Deckung gebracht, während Sebastian außerhalb des Hauses in einem Versteck lauert. Seine Aufgabe ist es, nach geraumer Zeit an der Haustür zu klingeln. Das soll den Vater ablenken. Wenn dieser die Küche verläßt, um die Haustür zu öffnen, soll Uli in die Küche eilen und unauffällig das Pulver in den Kaffee mischen.
Genauso geschieht es. Doch der Vorgang endet anders als erwartet: Als Karl Hempel nämlich einen kräftigen Schluck des vergällten Kaffees nimmt, verzieht sich sein Gesicht zu einer Ekel ausdrückenden Grimasse. In hohem Bogen spuckt er den Inhalt seines Mundes gegen das Kücheninventar. Mit heftiger Geste gießt er den Rest des Kaffees in den Ausguß und schimpft: »Wollt ihr mich verarschen? Da hat doch einer was reingeschüttet!«
Das ist alles, was diese Episode an Wirkung hervorbringt. Vermutlich hält Karl Hempel sie für ein grobes Lausbubenstück seiner Kinder. Schlechten Gewissens haben sich Sebastian und Uli unbemerkt in ihr Zimmer zurückgezogen. Rosi gibt ihnen zu verstehen, sich ruhig zu verhalten, eilt zu Karl, beruhigt ihn schnell mit einem frisch aufgebrühten Kaffee und kann so die Gelegenheit nutzen, alle Spuren des mißlungenen Mordversuchs zu beseitigen.
Die pharmakologische Wirkung des Medikaments »Neo-Secatropin« beruht auf seinen in nur sehr geringen Mengen enthaltenen Hauptbestandteilen Atropin (Wirkstoff der Nachtschattengewächse) und Phenyläthylbarbitursäure.
Atropin führt als Spasmolytikum und Mydriatikum in höchst geringer Dosierung zur Entkrampfung des Magen-Darm-Trakts und zur Steigerung der Herzrhythmusfrequenz. In der augenärztlichen Diagnostik wird es zur Pupillenerweiterung eingesetzt.
Phenyläthylbarbitursäure hingegen ist ein Derivat der Barbitursäure und besitzt einen beruhigenden, schlaffördernden Effekt.
In sehr hoher Dosierung (mindestens 20 Tabletten) ist »Neo-Secatropin« allerdings durchaus geeignet, den Tod eines Menschen zu verursachen (durch zentrale Lähmung).
Im strafrechtlichen Sinne stellt Rosi Hempels Verhalten eine Anstiftung zum Mord dar, bei der die Kinder als sogenannte Tatmittler fungierten. Der Umstand, daß Karl Hempel den sicher zum Tode führenden Trunk wegen des widerwärtigen Geschmacks letztlich nicht zu sich nahm, qualifiziert die Tathandlung seiner Gattin als Versuch des Mordes (»mit tauglichen Mitteln«), der, wie die Vorbereitung, unter Strafe steht. Hätte sie allerdings ihren ursprünglichen, stümperhaften Plan, den Ehemann mit metallischem Quecksilber vergiften zu wollen, in einen konkreten Tatversuch umgesetzt und hätte Karl Hempel die ihm zugedachte Menge tatsächlich zu sich genommen, wäre sein Tod trotzdem nicht eingetreten. Grund: Das Metall wäre ohne Schaden anzurichten wieder ausgeschieden worden.
Dennoch: Rosi Hempel handelte ernsthaft und tatentschlossen, wenngleich in Unkenntnis über die Wirkung des vermeintlichen Giftes. Strafrechtlich wäre eine derartige Handlung trotzdem als Versuch des Mordes (»mit untauglichen Mitteln«) geahndet worden. Die Täterin wußte nicht, daß allein die löslichen Salze des Quecksilbers (aber auch Quecksilberdämpfe) hoch toxisch sind.
Rosi Hempel ärgert sich über den Mißerfolg, sinnt aber unentwegt über eine neue Variante nach, den Gatten zu beseitigen. Ihre Überlegungen führen schließlich zu dem Entschluß,
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