Blutspuren
und Helmut Hellriegel zur Stelle sind. Kurz vor 22.00 Uhr beziehen die vier ihre vorgesehenen Posten im Hinterhalt. Von nun an heißt es, mucksmäuschenstill auszuharren …
Es ist Freitag, der 16. August 1968. Ein trockener, warmer Sommervormittag. Klopfenden Herzens macht sich Rosi Hempel auf den riskanten Weg zum VP-Kreisamt. Am liebsten würde sie umkehren. Doch das unangenehme Vorhaben ist unvermeidbar, es ist ein wichtiger Bestandteil ihres Selbstschutzes. Seit einer Woche ist Karl nicht mehr gesehen worden. Sein Betrieb hat schon nachgefragt, wo er bleibt. Natürlich kennt sie die Gründe, doch es wäre töricht, sie zu offenbaren. Also, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, ist es ratsam, sich so wie andere Menschen zu verhalten, die einen lieben Angehörigen vermissen. Folgerichtig muß sie daher tiefe Sorge über Karls Verschwinden und Interesse an seiner unbeschadeten Rückkehr demonstrieren. Und das heißt vor allem, ihn bei der VP offiziell als vermißt zu melden.
Der Uniformierte an der Hauswache des VP-Kreisamtes verweist Rosi an den Kriminaldienst im dritten Stock. Dort muß sie einige Minuten warten. Ein ziemlich finster dreinschauender Polizist in Zivil bittet sie schließlich in sein Büro. Höchstes Unbehagen befällt sie. Unter Aufbietung allen Talents liefert Rosi ihm jedoch den bühnenreifen Auftritt einer zutiefst besorgten Ehefrau und Mutter von neun Kindern, deren Angetrauter am späten Abend des 9. August nach einem harmlosen Streit unversehens seine Jacke angezogen und, ohne ein Wort zu sagen, das Haus verlassen habe. Dies alles können ihre Kinder Sebastian und Uli bestätigen, die den kommentarlosen Abgang ihres Vaters zufällig hautnah miterlebten. Seit diesem Abend nun sei ihr Mann spurlos verschwunden. Auch in seinem Betrieb wäre er nicht mehr aufgetaucht. Eine Woche lang habe sie auf seine Rückkehr gewartet und überall gesucht, wo sie ihn vermuten würde. Vergeblich. Jetzt aber seien ihre Nerven bloßgelegt. Deshalb erbitte sie die Hilfe der Volkspolizei.
Der Gesetzesvertreter mit dem ernsten Gesicht notiert gewissenhaft Rosis Angaben. Er stellt etliche ergänzende Fragen zu Karls Personenbeschreibung, will Näheres über Freunde und Bekannte wissen, durchleuchtet die Tiefen des Familienlebens, forscht nach möglichen Hintergründen für das Verschwinden und verspricht schließlich, die Angelegenheit mit der notwendigen Dringlichkeit zu behandeln. So geht alles gut, und Rosi Hempel kann kurz darauf das Haus der Staatsgewalt mit dem Gefühl enormer Erleichterung verlassen.
Mehr als vier Wochen vergehen. Die große Aufregung und die anfängliche Ungewißheit über die Intensität der polizeilichen Ermittlungen sind verflogen. Seit ihrer Anzeige hat Rosi Hempel keinen Polizisten mehr zu Gesicht bekommen. Um ihre vermeintliche Besorgnis zu bekunden, ruft sie lediglich wiederholt im VPKA an und fragt nach. Dort, so meint sie zu verstehen, ist man offensichtlich mit den Nachforschungen aber noch keinen Schritt weiter. Das beruhigt sie sehr, macht sie beinahe glücklich. Noch nie zuvor waren die wollüstigen Nächte mit Hellmut Hellriegel so ungestört wie in der Gegenwart. Selbst ihre Kinderschar ist zufrieden und genießt die Abwesenheit des ständig keifenden und prügelnden Familienoberhaupts. Rosis Befinden ist so gut, daß sie erfolgreich im Rathaus eine tränenreiche Bittstellszene vorführt: Dabei malt sie die mit dem plötzlichen Verschwinden des Gatten entstandene Familienbelastung in den Farben einer herzergreifenden Dramatik aus. Die Bürokraten der Abteilung »Innere Angelegenheiten« nicken verständnisvoll und gewähren bis zur endgültigen Klärung der Vermißtensache aus der Staatskasse ein großzügiges Darlehen.
Rosi Hempel unterliegt allerdings dem Irrglauben, die Polizei vernachlässige die Angelegenheit ihres Mannes. Die für Vermißtenfälle verantwortlichen Männer des Kommissariats 3 verfolgen längst die Fährte des vermeintlich abtrünnigen Familienvaters. Freilich setzten ernsthafte Ermittlungen erst einige Tage nach der Meldung ein, weil ein akuter Gefährdungsgrad oder gar ein Verbrechensverdacht bislang nicht begründet werden kann. Aber wenn der Vater einer neunköpfigen Kinderschar plötzlich verschwindet, muß sich die Exekutive einschalten, denn es besteht durchaus die Möglichkeit unterzutauchen, um so weiteren Unterhaltspflichten zu entgehen.
In der Abteilung »Jugendhilfe und Heimerziehung« beim Rat der Stadt Weimar studieren die
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