Blutspuren
Kriminalisten die dicke Akte über die Großfamilie mit den Berichten über deren chaotische Zustände. Erkundigungen in Hempels Betrieb werden eingeholt. Dort ist man des Lobes voll. »Karl ist ein gewissenhafter Kollege, der nie über Gebühr krankfeiert und noch nie unentschuldigt fehlte«, ist das Urteil des Brigadiers. Auch der ABV, der Vorsitzende des Wohnbezirksausschusses, Nachbarn aus der Martersteigstraße und das Schulpersonal werden über die Familie ausgefragt.
Bald steht fest: Karl Hempel ist eigentlich ein gutmütiger, starker Mann mit schwacher Psyche, dem Einfluß seiner ihm geistig überlegenen Frau ausgeliefert. Die ehelichen Scharmützel trägt er lautstark und mit vollem Körpereinsatz aus. Außerdem mißhandelt er seine Kinder, weshalb deren Verhältnis zu ihm ziemlich angstbeladen und haßerfüllt ist. Insbesondere der 16jährige Sohn Sebastian macht aus seiner Aversion gegen den Vater keinen Hehl. Rosi Hempel indes ist eine durchtriebene, intrigante Person, der man stets mit Mißtrauen begegnen sollte. Auch sie ist bei den Ehestreitigkeiten keineswegs zimperlich, wenngleich sie mehr die »psychologische Kriegführung« bevorzugt. Insgesamt sind die Verhältnisse in der Familie Hempel erheblich verworren und gestört. Die Ursachen dafür liegen im ungehemmten, destruktiven Erziehungsstil und in dauernden ehelichen Dissonanzen.
Am Samstag, 19.9.68, erhält Rosi Hempel den Besuch zweier Männer des VPKA – ein dicker Mittvierziger und ein jüngerer, schlanker Typ mit Sommersprossen. »Kriminalpolizei«, stellen sie sich vor und präsentieren ihre Ausweise. Die bisherigen Ermittlungen in der Vermißtensache hätten noch keine nennenswerten Ergebnisse erbracht, meinen sie. Deshalb schlagen sie eine polizeiliche Besichtigung des Hauses vor, die natürlich Rosis Einverständnis voraussetzt, so wie es das Gesetz fordert.
»Das ist keine Durchsuchung«, betonen deshalb die Männer, »wir wollen uns nur mal umschauen, ob wir neue Hinweise über den möglichen Verbleib Ihres Mannes finden!«
Rosi fühlt sich in einer Zwickmühle, hat Bedenken. Blitzschnell überlegt sie: Das amtliche Ansinnen zu verweigern, wäre ein großer Fehler, dem nur lästige Fragen nach den Gründen für die Ablehnung folgen würden. Das könnte sie womöglich in eine prekäre Lage bringen. Im übrigen aber dürften die beiden im Hause nichts finden, was ihren Argwohn wecken könnte. Deshalb stimmt sie mit gespielter Kooperationsbereitschaft der Schnüffelei zu.
Länger als eine Stunde durchstöbern die Polizisten das unappetitliche Durcheinander im Hause der Familie Hempel vom Keller bis zum Boden. Rosi weicht ihnen keinen Augenblick von der Seite, verfolgt mißtrauisch jede ihrer Bewegungen. Die heillose Unordnung in den Räumen und Schränken veranlaßt die Männer wiederholt zu spitzen Bemerkungen, auf die Rosi verlegen nur mit einer schwachen Geste des Bedauerns reagiert.
Die Polizeiaktion erweist sich als Flop: Nicht ein einziger Hinweis auf Karl Hempels Verbleib läßt sich aufspüren. Auch die Frage, ob er außer seiner Bekleidung, die er am fraglichen Abend am Leibe trug, irgendwelche anderen Sachen, Ausweise, Geldbeträge mitgenommen haben könnte, läßt sich angesichts der chaotischen Zustände in der Großfamilie nicht beantworten.
Als die Kriminalisten ihren dienstlichen Besuch beenden wollen, kommt der 16jährige Sebastian Hempel von der Arbeit heim. Er wurde vor einigen Monaten vorzeitig aus der 7. Klasse entlassen. Jetzt ackert er lustlos als Handlanger auf dem Bau.
Die Anwesenheit der beiden Fremden scheint ihn nicht zu beeindrucken. Denn er wendet sich an seine Mutter, weist mit dem Kopf in Richtung der Polizisten und fragt unüberhörbar: »Sind die wegen dem Alten da?«
Rosi macht eine beschwichtigende Handbewegung und nickt wortlos, ohne eine Antwort zu geben. Die Männer beobachten diese Szene genau, grienen sich an, und der Typ mit den Sommersprossen gibt seinem Mitstreiter deutlich zu verstehen: »Hörst du, der kann seinen Vater nicht leiden!«
Sebastian kapiert, reagiert sofort und ohne Hemmung: »Der Alte ist ein Mistkerl!«
»Wann hast du denn den Mistkerl das letzte Mal gesehen?« fragt der Dicke ironisch.
Sebastian ist verlegen, schaut hilfesuchend die Mutter an, die sofort für ihn antwortet: »Na, am neunten August abends, als er mir-nichts-dir-nichts verschwand!«
Sebastian nickt beflissen.
»Hatte er Koffer oder Taschen bei sich?« will der Polizist wissen.
Wieder blickt der
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