Blutspuren
Entgelt als Hilfsschlosser, aber seine Lebensansprüche sind bescheiden. Für einen richtigen Beruf, der die Lohntüte deutlich füllen könnte, fehlen ihm die notwendigen Zeugnisse. Aber selbst, wenn er sie besäße, wäre sein Interesse gering. Denn Schule ist ihm zuwider, hat bisher nur Abscheu erzeugt. Mehrmals sitzengeblieben, schafft er mit Gottes und der Lehrer Hilfe knapp die 8. Klasse der Sonderschule.
Lischka arbeitet in einem volkseigenen Metallbetrieb, ist dort fleißig, diszipliniert und kontaktarm. Die Freizeit verbringt er mit Rauchen, Trinken, Schlafen und der gelegentlichen Ablenkung mit Damen zweifelhaften Rufs, die häufig älter sind als er. In seinen geheimen Phantasien dominieren allerdings wesentlich jüngere Mädchen.
Gerhard Lischka vermag auch später keine echten Freundschaften einzugehen. Die wenigen Kontakte zu anderen sind oberflächlich, zweckorientiert, ohne Wert. Emotionale Bindungen bleiben ihm fremd. Selbst das Verhältnis zu seinen Eltern – rechtschaffene Leute, die sich lange Zeit um ihn vergeblich bemüht haben – ist längst ausgekühlt.
Wenige Wochen nach seiner Scheidung kollidiert er mit dem Gesetz: Enthemmt durch Alkohol und angestachelt durch einen Zechkumpan läßt er seinen sexuellen Gelüsten freien Lauf und vergewaltigt ein junges Mädchen auf brutalste Weise. Vor dem Berliner Stadtgericht muß er Rede und Antwort stehen. Den Richterspruch, zwei Jahre Freiheitsentzug ohne Bewährung, nimmt er kalt, regungslos und ohne Schuldbewußtsein entgegen. Für ihn sind von nun an nur noch dessen Auswirkungen auf sein eigenes Leben bedeutungsvoll.
In der Folgezeit muß er sich den strengen Regeln hinter den Gefängnismauern und der erbarmungslosen Hackordnung seiner Mitgefangenen unterwerfen. Sexualtäter sind auch unter Knastologen unbeliebt. Sie werden gedemütigt und schikaniert. Ganovenmoral unterliegt eigenen Gesetzen. Lischka begreift sehr schnell: Diese Bedingungen halbwegs unbeschadet zu überstehen, erfordert seinen höchsten Einsatz und macht jeden sentimentalen Gedanken an das künftige Leben draußen zu einer nebensächlichen Angelegenheit.
Erziehung durch gesellschaftlich nützliche Arbeit, heißt die Maxime des sozialistischen Strafvollzugs. Das bedeutet für den Strafgefangenen Lischka, in einer durch Wachposten und Drahtzäune von den übrigen Produktionsbereichen getrennten Abteilung der Rüdersdorfer Zementwerke in der Nähe Berlins schwere und staubreiche Arbeit zu verrichten. Der Bedarf an Zement auf den Berliner Baustellen in Ost, aber auch in West, ist riesig. Unentwegt wird produziert. Und das geht nur im Schichtsystem. Der Lohn für die Plackerei ist kaum nennenswert, doch acht Stunden Schlaf und ein verhältnismäßig kalorienreiches Essen werden garantiert. Ansonsten heißt es rackern bis zur Erschöpfung. Der sozialistische Wettbewerb macht auch vor den Knasttoren nicht Halt. Arbeitsnormen müssen erfüllt, besser noch übererfüllt werden. Denn nur daran wird man ihn messen. Aber auch daran, wie es ihm gelingt, sich den offiziellen und inoffiziellen Autoritäten widerspruchslos zu unterwerfen.
Lischka schafft es. Seine Anstrengungen werden schließlich belohnt: Mit reichlich dreihundert Mark Rücklage in der Tasche und einer gerichtlichen Androhung, unverzüglich wieder »einzufahren«, falls er den Pfad der Tugend verlasse, öffnen sich am 1. Juli 1970 – drei Monate vor regulärem Strafende – für ihn die Tore zur Freiheit. »Wegen guter Führung auf Bewährung vorzeitig entlassen«, heißt die amtliche Begründung.
Die staatlichen Organe verlangen, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden und bestimmte Lokale zu meiden, anderenfalls würden sie ein »Berlinverbot« aussprechen.
Lischka weiß, daß man ihn dann kurzerhand irgendwo in die Provinz verbannen könnte. Doch die Behörden verschaffen ihm auch eine kleine Wohnung in der Prenzlauer Allee, nahe der Wisbyer Straße. Und sie vermitteln ihm eine Tätigkeit als Eicher im VEB Transformatorenwerk »Karl Liebknecht« in Oberschöneweide – natürlich unter der Obhut einer Brigade mit dem Ehrentitel »Sozialistisches Kollektiv«. Das verspricht positiven Einfluß.
Alles in allem: Ein günstiger Ausgangspunkt für ein geordnetes Leben ohne Rechtsbruch.
Gerhard Lischka nutzt die Gunst der Stunde: Flugs richtet er mit billigen Gebrauchtmöbeln die kleine Wohnung ein, schafft sich eine bescheidene Behaglichkeit. Zu den Nachbarn ist er freundlich, ansonsten kümmern ihn die Belange der
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