Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutspuren

Blutspuren

Titel: Blutspuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Girod
Vom Netzwerk:
erfährt von der Inhaftierung. Mißtrauen ist mobilisiert. Mehr oder weniger geschickt, aber peinlich genau, wird Carmen mehreren elterlichen Verhören unterzogen. Doch was das Mädchen von sich gibt, klingt unschuldig und harmlos: Nicht der geringste Hinweis auf unsittliches Tun. Um aber ganz sicher zu gehen, untersagen die Eltern Carmen den weiteren Umgang mit dem sonderbaren Zeitgenossen. Carmen gelobt Gehorsam.
    Von nun an halten die Eheleute Vollmer ihren Nachbarn freundlich, aber entschlossen von sich fern. Lischka versteht schließlich die Signale nur zu gut, drängt sich nicht mehr auf. Folgerichtig werden die gemeinsamen Fernsehabende immer seltener, bis sie schließlich ganz aufhören. Carmens Eltern sind zufrieden.
    Doch ihre wiedergefundene Arglosigkeit ist eine folgenschwere Illusion, schläfert ihre bisherige Aufmerksamkeit gefährlich ein: So entgeht ihnen, daß Carmen das Verbot, Lischka zu besuchen, bald mißachtet. Hinter ihrem Rücken bleibt sie auch weiterhin im Kontakt mit »Onkel Gerhard«, denn der stille, nette Nachbar hat immer eine Nascherei für sie bereit.
    Es ist Mitte März 1972. Gerhard Lischka muß zur Spätschicht und erwartet Carmen zu einer Stippvisite. Beim Frühstück überdenkt er die Ereignisse der letzten Monate: Nein, Unrechtes hat er nicht getan. Im Gegenteil. Er geht seiner Arbeit nach, besucht die Betriebsakademie, trinkt zum Feierabend hin und wieder ein Bier, ohne sich an den Auseinandersetzungen seiner Zechbrüder zu beteiligen und meidet, wie es die Staatsmacht ihm aufgetragen hat, den Kontakt zu den bekannten sogenannten kriminell Gefährdeten seines Kiezes. Alles in allem ist er von seinem ernsthaften Bemühen überzeugt, nicht erneut auf die schiefe Bahn zu geraten.
    Was aber die Eheleute Vollmer betrifft, vermutet er richtig, daß sie den Kontakt zu ihm deshalb abgebrochen haben, weil sie von seiner Vorstrafe erfuhren. Doch das stört ihn keineswegs. Ihn verärgert der Fernsehentzug, der ihn nun dazu zwingt, sich das begehrte Utensil selbst zu beschaffen. Andererseits bereitet es ihm ein hämisches Vergnügen zu wissen, daß die kleine Carmen ihn unerlaubt besucht, wenn auch nicht mehr so häufig wie früher. Sein eigenes Kind, das fern von ihm längst einen anderen Vater hat, ist ihm gleichgültig. Carmens Unbefangenheit gefällt ihm. Mehr nicht.
    Lischka hat kein Empfinden dafür, daß sein Sexualleben ziemlich verroht ist. In der Abgeschiedenheit seiner vier Wände masturbiert er exzessiv, häufig mehrmals am Tag. Pornographische Bilder mit sadistischen Szenen ermöglichen dabei am besten die erforderliche Reizentfaltung. Überhaupt beherrscht Gewalt seine sexuellen Phantasien. Hin und wieder macht er in den verqualmten Eckkneipen seines Kiezes Bekanntschaften: liebeshungrige Frauen, die ihn so unverblümt anbaggern, daß er seine Scheu verliert. Dann läßt er sich zu intimen Dates verführen. Aber im Bett entpuppt sich der sympathische, schüchterne Mitmensch als rücksichtslose, gewalttätige Sexualmaschine, vor der die entsetzten Damen die Flucht ergreifen.
    Kurz nach sieben Uhr erscheint Carmen. Der prall gefüllte Schulranzen drückt auf ihre Schultern. Lischka entgeht nicht, daß sie unter dem Anorak eine weiße Bluse mit akkurat gebundenem roten Pionierhalstuch trägt. Dies erklärt ihre Eile: »Ich muß gleich los, halb acht ist Fahnenappell!«
    »Willst du ’ne Tasse Trink-fix, geht auch ganz schnell?« fragt Lischka. Das Mädchen nickt zustimmend, als es die rotweiße Büchse erspäht – ein Instant-Schokoladenpulver der Westfirma »Trumpf«, in der DDR produziert und als »Gestattungsproduktion« manchmal auch im volkseigenen Handel erhältlich. Ein Eßlöffel voll davon in warmer Milch verrührt, schon ist das begehrte Getränk fertig.
    Während Carmen genüßlich daran nippt, meint sie beiläufig: »Nächste Woche komme ich wieder.«
    Doch Lischkas Gesichtsausdruck zeigt Enttäuschung: »Geht aber nicht, hab die ganze Woche Frühschicht!«
    »Und am Achtundzwanzigsten?« fragt das Mädchen weiter.
    Lischka versteht nicht: »Wieso am Achtundzwanzigsten?«
    »Da hab ich Geburtstag, ich werde doch neun!« verkündet Carmen stolz.
    Lischka zögert einen Atemzug lang, dann sagt er: »Am Achtundzwanzigsten – ja, das geht, da habe ich Spätschicht!« Ihm fällt ein, Carmens Taschengeld etwas aufzubessern – ein unauffälliges Geburtstagsgeschenk, das bei ihren Eltern keine unnötigen Fragen wecken und die heimlichen Besuche nicht gefährden würde.

Weitere Kostenlose Bücher