Blutspuren
Hausgemeinschaft nicht. Und: Im Betrieb ist er zuverlässig, arbeitet fleißig, verhält sich kameradschaftlich, fast liebenswürdig. Aber er scheut nähere, persönliche Kontakte, meidet die regelmäßigen Zusammenkünfte seiner trinkfreudigen Brigade.
Lischkas Hang zur Selbstisolation scheint sich durch die Haft noch verstärkt zu haben. Die Kollegen verpassen ihm heimlich den Spitznamen »der Schweiger«. Die meisten wissen zwar, daß er ein »Knasti« ist, ihn aber nach den Gründen für die staatlich angeordnete Enthaltsamkeit zu fragen, vermeiden sie taktvoll. Die Gründe kennt man nur in den Räumen der Kaderabteilung.
Die Zeit vergeht, und die Stimmen hinter Lischkas Rücken verstummen. Es scheint, als wäre der Samen seiner Resozialisierung im fruchtbaren Boden des sozialistischen Arbeitskollektivs aufgegangen. Die Betriebsleitung zeigt sich erkenntlich: Man schlägt ihm eine berufliche Qualifizierung vor. Gerhard Lischka ergreift die helfende Hand. Einige Monate lang geht alles gut.
Das Verhängnis beginnt, als er an einem Herbsttag des Jahres 1971 von der Frühschicht heimkehrt. Ein Möbelwagen steht vor dem Nebenhaus. Sessel und Kisten versperren den Gehweg. Lischkas Slalom um diese Hindernisse wird jäh unterbrochen: Ein Mann, etwas älter als er, der gerade einen schweren Fernseher von der Ladefläche hievt, fragt:
»Haben Sie nicht Lust, sich ’n paar Mark zu verdienen?«
Lischka überlegt kurz und ist bereit. Vier Hände schaffen mehr als zwei. So verschwindet nach und nach der Inhalt des Möbelwagens in einer Wohnung der ersten Etage.
Hin und wieder unterbrechen die Männer ihre schweißtreibende Aktion für eine Pause. Lischka erfährt: Sein Gesprächspartner heißt Vollmer, fährt bei der BVG einen Linienbus, ist verheiratet und stolzer Vater einer achtjährigen Tochter namens Carmen. Bisher mußte er mit Frau und Kind in einer viel zu kleinen Hinterhauswohnung in der Jablonskistraße hausen. Nun ist er glücklich über die neue Wohnung. Lischka indes verhält sich, wie es seine Art ist, ziemlich wortkarg, offenbart aber einige Bruchstücke aus seiner Biographie, natürlich darauf bedacht, seinen Leumund nicht zu beschädigen.
Zwischen den Männern baut sich schnell eine Brücke der Sympathie auf. Und noch ehe ihre Arbeit beendet ist, duzen sie sich.
Als Stunden später Frau Vollmer mit ihrer kleinen Tochter, einem hübschen, blonden Mädchen mit Pferdeschwanz und lebhaften Augen, erscheint, ist das neue Heim fast eingerichtet. Mutter und Tochter stutzen beim Anblick des Fremden.
Vollmer beruhigt sie: »Das ist Gerhard von nebenan. Er hat mit zugepackt!«
Von diesem Tage an ist Lischka häufiger Gast bei den neuen Nachbarn. Ihre Einladungen nimmt er vor allem deshalb gern wahr, weil sie einen Fernseher besitzen – ein Luxus, auf den er bislang noch verzichten muß. Mit dem Ehepaar Vollmer versteht er sich gut. Auch die kleine Carmen kann er schnell für sich gewinnen. Sie nennt ihn bald vertrauensvoll »Onkel Gerhard«. Daß sie ihn gelegentlich in seiner Wohnung besucht, begünstigen die Eltern ohne jeden Hintergedanken. Denn: Manchmal sitzt Vollmer schon um vier Uhr früh auf dem Fahrersitz seines Schlenkerbusses: Das sozialistische Arbeitsvolk muß pünktlich an die Werkbänke. Die Gattin indes, die im Stadtbezirk Mitte in einem Elektrogeschäft arbeitet, verläßt ohnehin regelmäßig kurz vor sieben Uhr das Haus. Carmen aber begibt sich erst eine halbe Stunde später auf den Schulweg. Und wenn Lischka Spätschicht hat, folglich zu Hause ist, nutzt sie die Zeit für morgendliche Kurzbesuche.
Monate verstreichen. Doch im Verborgenen lauert das Verhängnis: Carmens Visiten bei Lischka sind inzwischen fast eine Selbstverständlichkeit geworden. Aber plötzlich brechen die Besuche ab. Lischka kann sich das nicht erklären. Vergeblich wartet er einige Tage, doch Carmen kommt nicht. Vorsichtig erkundigt er sich bei Frau Vollmer nach den möglichen Gründen. Sie gibt sich ahnungslos, speist ihn mit Ausflüchten ab, zeigt sich auf merkwürdige Weise reserviert. Er kann ihr Verhalten nicht deuten.
Doch dafür gibt es eine plausible Erklärung: Lischka weiß nämlich nicht, daß Carmens häufige Besuche, über deren Inhalte sie zu Hause kaum spricht, schon seit geraumer Zeit Argwohn bei den Eltern geweckt haben. Carmens ungewöhnliche Affinität zu ihm ist auch Freunden der Familie Vollmer aufgefallen. Herr Vollmer erkundigt sich unauffällig wie ein Detektiv in Lischkas Betrieb und
Weitere Kostenlose Bücher