Blutspuren
Rosi. Ihre Mitteilung ist kurz und knapp: »Es ist vorbei!«
Unterdessen hieven die drei Jungen den toten Hempel auf den Oberboden. Sie werfen das freie Ende des Strangwerkzeugs über einen Querbalken und ziehen den Leichnam empor, bis die Füße des Getöteten fast einen Meter über dem Fußboden schweben. Dann wird das Seil am Querbalken fixiert.
Als sich alle nach vollbrachter Tat bei Rosi in der Küche einfinden, ist es kurz vor Mitternacht. Alle sind zufrieden. Immerhin verlief die Aktion mit militärischer Akkuratesse. Nun wird darüber beraten, wie es weitergeht. Fast zwei Stunden dauert die Sitzung, bis Rosi neue Regieanweisungen erteilt. Das Verhalten jedes einzelnen wird festgelegt, denn es herrscht Gewißheit darüber, daß die Kripo den Selbstmord ihres Mannes untersuchen wird. Mögliche Fragen werden aufgeworfen, Antworten abgestimmt. Denn in einigen Stunden muß Rosi die zufällige Entdeckung des toten Mannes anzeigen und die von Trauer erschütterte Witwe spielen.
Plötzlich ein schweres, dumpfes Poltern aus Richtung Oberboden. Was war das? Entsetzen in den Gesichtern des mörderischen Quintetts. Sebastian und Helmut zittern vor Angst. Rosi gewinnt als erste die Fassung zurück, mahnt die anderen, die Nerven nicht zu verlieren. Dann eilen sie nach oben, finden die Erklärung: Der Strick, an dem Karl Hempels Leichnam hing, war gerissen. Deshalb war der tote Körper auf die Dielen geplumpst. Für einen kurzen Augenblick hat sich der ungeliebte Vater und Ehemann noch einmal lautstark Autorität verschafft.
Rosi Hempel überlegt: Noch einmal aufhängen? Nein, zu riskant. Das würde Spuren verursachen, die die Inszenierung verraten könnten. Dann sagt sie zu den anderen: »Wir bringen ihn weg, er muß verschwinden, niemand darf ihn finden!«
Es ist kurz nach 3.00 Uhr. Der Morgen dämmert bereits. Während Britta Obgartel auf dem Oberboden mögliche Spuren beseitigt, wickeln die anderen den toten Karl Hempel in Decken, verschnüren ihn zu einem großen Paket, das sie hinaus auf den Hof tragen. Rosi vergewissert sich, daß die Hoftür verschlossen ist und holt das Fahrrad aus dem Keller. Mit vereinten Kräften versuchen die fünf nun, die Leiche auf das Fahrrad zu heben. Es erfordert einige Mühe, bis das unförmige, schwere Bündel sicher und im Gleichgewicht über dem Fahrradrahmen hängt.
Zur gleichen Zeit macht ein Nachbar aus dem Haus gegenüber sein Motorrad für eine lange Tour zur Ostsee startklar. Das ungewöhnliche Treiben hinter der Hoftür der Familie Hempel entgeht ihm zwar nicht, jedoch schenkt er ihm keine Beachtung. Augenblicke später knattert er davon.
Als wieder Stille in der Martersteigstraße herrscht, öffnet Helmut Hellriegel das Tor zur Straße einen Spalt weit und sieht sich vorsichtig um. Tatsächlich, die Luft ist rein. Sogleich transportiert das mörderische Quintett die unheimliche Fracht bis zum Flurstück am Sonnenberg, um sie am Lottenbach im dichten Strauchwerk zu verscharren.
Nach Hause zurückgekehrt sinken Britta, Sebastian und Uli erschöpft und hundemüde auf ihre Matratzen. Rosi hingegen genießt in vollen Zügen Helmuts Manneskraft …
Am Ende des ersten Quartals 1969 verhandelt der 2. Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt die Mordsache Karl Hempel. Auf der Anklagebank sitzen Rosi Hempel, ihr 16jähriger Sohn Sebastian, ihr Liebhaber Helmut Hellriegel und ihre 17jährige Bekannte Britta Obgartel. Nur der strafunmündige 13jährige Uli bleibt der letzten, unfreiwilligen Zusammenkunft der Mörderclique fern.
Auszug aus der Anklageschrift:
Die Beschuldigte Rosi Hempel hat es verstanden, sich nicht direkt an den Tötungshandlungen zu beteiligen, sondern als Anstifter und Gehilfe sich im Hintergrund zu halten. Als geistiger Urheber der Straftaten hatte sie die Fäden in der Hand und bestimmte Art und Weise ihrer Begehung. Sie ist in der Lage, die Gesellschaftsgefährlichkeit ihres Verhaltens einzuschätzen …
Die Gesellschaftsgefährlichkeit ihrer Straftaten wird besonders dadurch charakterisiert, daß sie gewissen- und bedenkenlos aus verwerflichen und egoistischen Beweggründen ihre minderjährigen Kinder in das verbrecherische Geschehen einbezog. Welche verheerenden Folgen bei diesen bereits eingetreten sind, zeigte sich nicht nur in ihrem bedingungslosen Eintreten für die Mutter und deren verbrecherisches Handeln, sondern auch in deren Verhalten nach der Straftat. So überredete der 10jährige Sohn Winfried im Kinderheim Weimar einen 12jährigen Schüler,
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