Blutspuren
Sich der Verschwiegenheit des Mädchens sicher, motiviert er es für den nächsten Besuch: »Na klar, du mußt ja kommen, dein Geschenk abholen!«
Carmen quittiert diese angenehme Aufforderung mit einem Lächeln. Als sie wenig später den Kakao ausgetrunken hat, bricht sie auf. Lischka begleitet sie zur Wohnungstür. Während das Mädchen mit schnellen Schritten die hölzernen Stufen des Treppenhauses hinunter poltert, ruft er hinterher: »Nächste Woche kauf ich mir ’n Fernseher!«
Carmens Geburtstag rückt immer näher. Die Eltern versprechen eine richtige Geburtstagsparty: Spielkameraden und Schulfreunde werden eingeladen. Die Küche soll zur Milchbar umfunktioniert, das Kinderzimmer mit Papierschlangen und Lampions ausgeschmückt werden. Ein Bekannter besorgt Platten von Lakomy, Schöbel und Maffay. Vater Vollmer tauscht den Dienst, damit auch er nachmittags zu Hause ist. Selbst die Oma aus Neustrelitz hat sich angesagt. All das verleiht Carmen ein Gefühl prickelnder Vorfreude. Ihre Erwartung ist so groß, daß die Tage träge dahin zu schleichen scheinen.
Am Dienstag, dem 28. März 1972, ist es dann soweit: Vater Vollmer mußte zwar zum Frühdienst, doch die Mutter weckt Carmen liebevoll mit einem Geburtstagsständchen. Der Frühstückstisch ist festlich gedeckt. Doch noch ist profaner Alltag. Die Party steigt erst am Nachmittag. Jetzt drängt es die Mutter ins Geschäft, aber mittags will sie wieder zurück sein. Und Carmen muß den ganzen Vormittag die Schulbank drücken.
Kurz vor sieben Uhr verläßt Frau Vollmer das Haus. Bevor sie die Wohnungstür hinter sich zuschlägt, appelliert sie freundlich an Carmens Gewissen: »Schließ die Wohnungstür ordentlich ab und vergiß dein Pausenbrot nicht!«
»Ja, ja, ich weiß«, antwortet das Kind kurz und gelangweilt, längst an diese immer wiederkehrende Ermahnung gewöhnt. Carmen erledigt widerwillig den morgendlichen Abwasch, der zu ihren häuslichen Pflichten zählt. Dann schultert sie den Schulranzen und verläßt die Wohnung. Sie vergißt nicht, die Tür sorgfältig abzuschließen.
Wie geplant, betritt Frau Vollmer kurz nach 12.00 Uhr die Wohnung, abgehetzt und beladen mit kulinarischen Überraschungen für das Kindervergnügen. Kurz darauf erscheint die Oma aus Neustrelitz. Frau Vollmer ist froh, denn es gibt noch viel zu tun. Gegen 13.15 Uhr erwartet sie das Geburtstagskind. Doch die Zeit verstreicht. Von Carmen keine Spur. Mutter und Großmutter sind zunehmend beunruhigt. Wo bleibt das Kind nur? Um 14.30 Uhr soll das Fest beginnen. Noch können sich die beiden Frauen mit allerlei möglichen Erklärungen über Carmens Ausbleiben trösten. Doch das ungeduldige Warten legt die Nerven bloß. Die Stimmung ist gereizt. Vorwürfe über das leichtfertige Verhalten des Kindes werden laut. Der Ärger schafft sich freie Bahn. Weitere Zeit vergeht. Die Gereiztheit weicht zusehends einer quälenden Sorge.
Pünktlich um 14.30 Uhr klingelt es an der Wohnungstür. Endlich! Carmen kommt. Eine kurze Hoffnung flammt auf. Dann der Zweifel: Warum klingelt sie, sie hat doch einen eigenen Schlüssel? Mit gemischten Gefühlen öffnet Frau Vollmer die Tür. Die ersten Geburtstagsgäste erscheinen, Carmens Schulfreunde. Sie selbst ist nicht dabei. Blitzschnell zerrinnt die kleine Hoffnung. Dunkle Vorahnungen beschleichen die Mutter. Jetzt will sie es wissen: »Wo ist Carmen?«
Die Kinder sind erstaunt: »Wir dachten, sie ist heute zu Hause geblieben, weil sie doch nicht in der Schule war!«
Nein, das darf nicht wahr sein! Frau Vollmer stockt das Blut in den Adern, sie kann keinen klaren Gedanken fassen, fühlt nur, etwas tun zu müssen. Nichts wäre schädlicher als sich jetzt der Passivität des Wartens hinzugeben. Doch da sind noch die kleinen Geburtstagsgäste, deren festliche Erregung und Erwartung kaum besänftigt werden können. Sie spüren nichts von den berechtigten mütterlichen Sorgen.
In angstvoller Getriebenheit delegiert Frau Vollmer die weitere Verantwortung für die kleinen Gäste an ihre Mutter: »Ich muß zur Schule! Kümmere du dich inzwischen um die Kinder!« Dann schlägt sie die Wohnungstür hinter sich zu.
Sie nimmt Carmens üblichen Schulweg, konzentriert dabei den Blick auf Orte, die kindliches Interesse wecken könnten, erkundigt sich in den am Wege liegenden Geschäften. Vergeblich. Sie entdeckt ein funktionierendes Telefonhäuschen. Ratlos wählt sie den Polizeinotruf 110. Doch der Mann am anderen Ende der Leitung hat kein rechtes Ohr für ihr
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