Blutstein
Paket zusammengeschnürt lagen sie in dem Regal hinter Ellas
kleiner Schmuckschatulle und ihren alten Jugendbüchern von Karl May und Lucy
Maud Montgomery. Jedes der Tagebücher war vorne auf dem Umschlag mit einer
Jahreszahl in schwarzer Tinte versehen, und als er die Schnur aufknotete und
das erste aufschlug, fiel sein Blick auf die zierliche Handschrift seiner Frau
in dicht beschriebenen Zeilen.
Das waren Ellas Tagebücher, insgesamt acht Stück.
Zuerst zögerte Gerlof ein paar Sekunden. Er musste an das
Versprechen denken, das er ihr gegeben hatte. Dann griff er nach dem obersten
Buch und ging hinaus in den Garten zu seinem Holzstuhl. Dabei hatte er das
Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Er hatte sie nur manchmal darin schreiben
sehen, und sie hatte ihm auch nie etwas davon gezeigt.
Verbrenne sie,
Gerlof.
Er nahm auf seinem Stuhl Platz, wickelte sich eine Decke um die
Beine und legte das Tagebuch auf den kleinen Gartentisch neben sich.
Zweiundzwanzig Jahre war es her, dass seine Ella an Leberkrebs gestorben war,
im Herbst 1976 .
Aber wenn er im Garten saß, hatte er sehr oft das Gefühl, dass sie keineswegs
von ihm gegangen war, sondern in der Küche stand und Kaffee kochte.
Ella hatte zeit ihres Lebens deutlich Grenzen gesetzt. So hatte sie
ihrem Mann zum Beispiel nie Zutritt zur Küche gewährt, und selbstverständlich
hatte sich Gerlof darüber niemals beschwert. Als dann seine Töchter Anfang der
Sechzigerjahre Teenager wurden, hatten sie unzählige Male versucht, ihn zur
Mithilfe im Haushalt zu bringen. Aber Gerlof hatte sich immer zurückgehalten.
»Das ist jetzt zu spät für mich«, hatte er geantwortet.
In der Küche hatte er sich immer unsicher und unbeholfen gefühlt. Er
hatte nie gelernt, Essen oder gar die Wäsche zu machen, und konnte nur Geschirr
spülen. Heutzutage schienen die schwedischen Männer alles Mögliche im Haushalt
zu übernehmen, neue Zeiten waren angebrochen.
Gerlof sah sich um. Er hatte ein Flattern zwischen den Wildgräsern
vor seinem Grundstück entdeckt. Das war der erste Schmetterling des Jahres. Er
kam auf ihn zugeflogen, mit diesen ruckhaften Bewegungen, die typisch waren für
alle Frühlingsschmetterlinge, die er im Laufe seines Lebens gesehen hatte. Es
wirkte unkoordiniert, ohne Ziel.
Es war ein leuchtend gelber Zitronenfalter. Ein schönes
Frühlingszeichen.
Gerlof lächelte dem Zitronenfalter zu, der sich zaghaft zur Landung
auf dem Rasen vor seinen Füßen bereit machte. Doch dann erlosch sein Lächeln,
denn er hatte einen zweiten Schmetterling entdeckt. Dieser war dunkel, fast
schwarz und hatte graue und weiße Streifen. Er konnte sich nicht genau
erinnern, wie diese Sorte hieß. Kleiner Fuchs? Oder vielleicht Trauermantel? Er
flog zielgerichteter und erreichte den Rastplatz auf dem Rasen nahezu
zeitgleich mit dem Zitronenfalter. Dann umkreisten sie sich eine Weile, wie in
einem frühlingshaften Tanz, ehe sie dicht an Gerlof vorbeiflatterten und hinter
dem Haus verschwanden.
Ein gelber und ein grauschwarzer, was hatte das zu bedeuten? Er
hatte den ersten Schmetterling des Jahres nie als ein Zeichen dafür genommen,
wie das restliche Jahr wohl werden würde, hoffnungsvoll und hell oder düster
und dunkel. Aber dieses Mal war er verunsichert. Es fühlte sich an, als hätte
er eine Flagge hissen wollen, und die hätte sich auf halbmast verhakt, bevor
sie sich ganz hochziehen ließ.
Er hatte gerade das Tagebuch aufgeschlagen, als er das Heulen eines
Automotors hinter sich hörte. Ein großer, glänzender Wagen kam die Hauptstraße
heruntergefahren und bog in den Kiesweg, der zum Steinbruch führte.
Gerlof erhaschte einen kurzen Bick auf den Fahrer und seine
Begleitung, beide mittleren Alters.
Wahrscheinlich waren das die neuen Nachbarn, die eines der Häuser am
Steinbruch gebaut hatten. Sie würden sich sowieso nur in den hellen und warmen
Monaten hier aufhalten und waren nicht bereit, in den Wintermonaten zu frieren
und die letzten Bäume entlang der Küste zu roden, so wie seine eigene Familie
es hatte machen müssen.
Gerlof interessierte sich nicht weiter für sie. Er senkte den Kopf
und begann, im Tagebuch zu lesen:
Heute ist der 7.
Mai 1957.
Heute Nacht
bricht Gerlof zu seiner ersten Reise des Jahres auf, um in Nynäshamn Öl zu
laden. Davor war er in Kalmar mit dem Frachter, um sein Leergewicht zu
ermitteln, nachdem er seine Deckluken erneuert hatte. Lena und Julia sind mit
an Bord.
Am Tag schien die
Sonne. Ich habe das Sommerhaus gegen sechs Uhr abends
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