Blutstein
erreicht und erst einmal
gelüftet. Hatte den Eindruck, es roch ein bisschen nach Schimmel. Aber es war
nur ein Glas mit gezuckertem Wacholder, der begonnen hatte zu gären und das
Glas in tausend Stücke gesprengt hat. Ich musste erst den Dreck und die
blaurote Zuckerschicht abkratzen, die am Boden klebte, hab daher kaum
geschafft, mir was zu essen zu kochen (Fleischklöße). Die Kinder und Gerlof
kommen übermorgen nach Hause.
Gerlof begriff, dass Ella so eine Art Urlaubstagebuch geschrieben
hatte. Er wusste, dass sie oft die Zeit mit den beiden Mädchen im Sommerhaus
verbracht hatte, wenn er zur See gefahren war. Als die Kinder älter wurden und
ihren Vater nach Stockholm begleiten oder lieber in Borgholm bleiben wollten,
hatte sie viel Zeit allein im Sommerhaus verbracht. Darum hatte er sie auch
kaum beim Schreiben beobachten können.
Er las weiter:
Heute ist der 15.
Mai 1957.
Sonne, aber mit
einer kühlen Brise aus Nordost. Die Mädchen haben am Nachmittag eine lange
Fahrradtour die Küste hinunter unternommen.
Während sie fort
waren, ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich stand draußen auf der Veranda und
habe die Geranien gegossen – und habe einen Troll aus dem Steinbruch gesehen.
Oder was soll es
sonst gewesen sein?
Es war auf jeden
Fall zweibeinig, bewegte sich aber so schnell, dass ich vollkommen entgeistert
war. Wie ein Schatten. Ein Knacken draußen auf der Wiese, ein Rascheln im
Gebüsch, dann war es wieder fort. Ich glaube, er hat mich ausgelacht.
Wiese hatten Ella und Gerlof den zugewucherten Teil des Gartens genannt, auf dem vor
dem Krieg noch Kühe gegrast hatten.
Aber was meinte Ella mit »Troll«?
Da hörte Gerlof erneut Motorengeräusche hinter den Bäumen. Sie
erstarben, und dann knirschte das Gartentor. Hastig versteckte er das Tagebuch
unter seiner Decke. Er wusste nicht, warum er das tat. Wahrscheinlich quälte
ihn doch das schlechte Gewissen.
Ein kleiner, kräftig gebauter Mann um die siebzig stapfte durch den
Garten. Das war sein Freund John Hagman in seinem zerschlissenen blauen Overall
und mit der hellgrauen Schiffermütze, die er tagein, tagaus trug, Winter wie
Sommer. Er war als Steuermann mit Gerlof zur See gefahren; jetzt gehörte ihm
der Campingplatz südlich von Stenvik.
Mit schweren Schritten kam er auf Gerlof zu und blieb vor ihm
stehen. Gerlof winkte ihm lächelnd zu. John erwiderte das Lächeln nicht –
fröhlich und zufrieden auszusehen war nicht seine Art.
»Alles klar«, hob er an. »Habe gehört, dass du wieder zurück bist.«
»Ja. Und du offenbar auch.«
John nickte. Er war im Laufe des Winters ein paarmal bei Gerlof im
Altersheim gewesen, hatte aber ansonsten in der kleinen Wohnung seines Sohnes
in Borgholm gewohnt. Fast beschämt hatte er gestanden, dass es ihm im Winter zu
kalt und zu einsam war, so ganz allein in Stenvik. Er würde das nicht mehr
aushalten. Gerlof konnte ihn gut verstehen.
»Ist sonst noch jemand hier?«
John schüttelte den Kopf.
»Die Stadt ist seit Neujahr menschenleer. Seit Ende der Woche sind
ein paar Gäste da.«
»Und Astrid Linder?«
»Sie hat schließlich auch aufgegeben und ihr Haus winterfest gemacht
... Ich glaube, sie ist im Januar an die Riviera geflogen.«
»Aha!«, sagte Gerlof. Er erinnerte sich, dass Astrid Linder vor
ihrer Pensionierung als Ärztin gearbeitet hatte. »Na, sie hat wohl ein paar
Kronen auf die hohe Kante gelegt.«
Sie schwiegen. Gerlof hielt Ausschau nach den Schmetterlingen, sah
aber keine mehr. Er hörte nur das schwache Rauschen des Windes in den Bäumen.
Dann sagte er:
»Ich glaube, ich bleibe hier nicht mehr so lange, John.«
»In Stenvik?«
»Nein, ich meine hier«, erwiderte Gerlof und zeigte auf seinen
Brustkorb, weil er annahm, dass sich dort die Seele und somit das Leben befand.
Es klang gar nicht so dramatisch, wie er erwartet hatte. John nickte
nur und fragte:
»Bist du krank?«
»Nicht mehr als sonst. Aber so müde. Ich müsste etwas Sinnvolles
tun, tischlern, das Haus streichen, so wie früher ... stattdessen sitze ich hier
nur rum.«
John wandte den Kopf ab, als würde ihn das Gespräch anstrengen.
»Fang mit etwas Kleinem an«, schlug er vor. »Geh runter ans Wasser
und schleif dein Ruderboot.«
Gerlof seufzte.
»Das hat überall Löcher.«
»Das können wir doch reparieren«, widersprach John. »Und in zwei
Jahren fängt ein neues Jahrtausend an. Das willst du doch nicht verpassen, oder?«
»Ja, vielleicht ... wir werden sehen, was uns die neue Zeit so
bringt.«
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