Blutstein
angestrengtes Gesicht und erinnerte ihn an jemanden. Regina?
Dann blickte er wieder seinen Sohn an, den er umarmt hielt. Jesper
wirkte entspannt, aber seine Nackenmuskeln zitterten.
»Hast du irgendwo Schmerzen?«
»Nur blaue Flecken«, sagte Jesper und schenkte Per ein kleines
Lächeln. »Ich habe versucht wegzuspringen, aber die Reifen sind ganz schön nah
dran gewesen.«
»Allerdings, das war so was von tierisch nah ... Was für ein Glück, dass
du so schnell reagiert hast.«
Pers Lächeln war ein wenig verkrampft, als er die Schultern seines
Sohnes losließ.
Er legte die Hände ans Steuer und atmete tief ein und aus. Die Wut
war verflogen, aber vor wenigen Minuten noch hatte er einen Mann
niedergeschlagen und war bereit gewesen, ihn zu verprügeln. Er hätte auf jeden
einschlagen können, wenn er ehrlich war. Als würde davon irgendetwas besser.
Ein anderer Gedanke aber ging ihm auch durch den Kopf. Jesper hatte
ihn seit langer Zeit mal wieder angelächelt. Ein Frühlingszeichen?
Er verfolgte den Audi mit den Augen, wie dieser immer mehr an
Geschwindigkeit zunahm und nach Norden verschwand.
Der große Wagen weckte in Per die Erinnerung an die unzählig vielen
Superschlitten, die sein Vater aus den USA importiert hatte. Mitte der
Siebzigerjahre hatte er sich einen Cadillac gekauft und fast jedes Jahr ein
neues Modell erstanden. Die Leute hatten sich nach ihm umgedreht, und das hatte
er geliebt.
»Wie hast du das vorhin gemacht mit dem Typen?«, fragte Jesper.
»Wie bitte?«
»Na, dieser Judowurf.«
Per schüttelte den Kopf und drehte den Zündschlüssel um. Er hatte
weniger als zwei Jahre Judo trainiert und es auch nur bis zum orangefarbenen
Gurt geschafft, dennoch schien Jesper beeindruckt zu sein.
»Das war gar kein Judo ... Ich habe ihn einfach umgehauen, ich habe
ihm ein Bein gestellt«, erwiderte er. »Das hättest du auch gekonnt, wenn du
weiter zum Training gegangen wärst.«
Jesper schwieg.
»Du gehst doch auch nicht mehr zum Training«, gab er nach einer
Weile zurück.
»Ich habe keinen Partner zum Trainieren«, sagte Per und verließ den
Parkplatz. »Ich habe mir überlegt, stattdessen joggen zu gehen.«
Sein Blick wanderte über die platte Landschaft rechts und links
neben der Straße. Das Gelände sah unbelebt aus, aber oft war ja die meiste
Bewegung unter der Oberfläche.
»Wo willst du denn hier joggen gehen?«, sagte Jesper.
»Egal, überall.«
6
B itte
verbrenne sie, Gerlof«, hatte Ella Davidsson gesagt, als sie bis aufs Skelett
abgemagert im Krankenhausbett lag. Versprich mir, dass du sie verbrennen wirst.
Und er hatte genickt. Aber die Tagebücher seiner verstorbenen Frau
existierten nach wie vor, und an diesem frühlingsmilden Freitag hatte er sie
wiedergefunden.
Eine Woche vor Ostern war die Sonne nach Öland zurückgekehrt. Jetzt
fehlte nur noch die Wärme, und Gerlof würde den ganzen Tag im Garten verbringen
können: ausruhen, nachdenken und Buddelschiffe bauen. Dünne grüne Grashalme
zeigten sich bereits zwischen dem braunen Laub. Aber der Rasen würde vor Mai
nicht gemäht werden müssen.
Der Sonnenschein würde die Schmetterlinge herbeilocken.
Für Gerlof waren das die wichtigsten Frühlingszeichen. Schon als
kleiner Junge hatte er ungeduldig auf das erste Exemplar des Jahres gewartet,
war neugierig gewesen, welche Farbe er wohl hatte. Mit vierundachtzig war es
zwar ungleich schwerer, von so starken Gefühlen erfüllt zu werden, wie als
junger Mensch, aber dennoch erwartete Gerlof den ersten Schmetterling mit
Vorfreude.
Nach dem Umzug hatte nun der Alltag Einzug gehalten. Er war allein
und schlenderte durch die kleinen Räume des Sommerhauses, den Stock in der
einen Hand, den Kaffeebecher in der anderen. Der Rollstuhl stand im
Schlafzimmer und wartete schweigend darauf, dass Sjögren, sein rheumatisches Syndrom,
wieder schlimmer wurde. Bis dahin konnte er die Steintreppe ohne Probleme
meistern.
In der vergangenen Woche waren seine Möbel gekommen – die wenigen
Stücke, die er aus seinem Zimmer im Altersheim mitnehmen wollte – und die
vielen Erinnerungsstücke aus seiner Zeit zur See. Buddelschiffe, Seekarten,
Namensschilder einiger Frachter, die er gesegelt war, und wunderschöne Knoten
aus dunkelbraunem Tauwerk, das noch immer nach Teer duftete.
Gerlof war umgeben von Erinnerungen.
Und als er den Schrank neben dem Kühlschrank in der Küche öffnete,
um dort seine alten Logbücher zu verstauen, da fielen ihm die Tagebücher in die
Hände.
Zu einem
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