Blutstern
Filzpantoffeln, schlüpfte hinein und schlurfte in die Küche. Auf dem Tisch lag der Drohbrief. In ihre kleine Wohnung eingedrungen, verbreitete er Angst und Unruhe, erinnerte sie an den Tod von Ilona und stellte unerbittlich die Frage nach dem Warum. Was soll ich nur tun?, dachte Maria Belletto. Sollte sie den Brief dem Kommissar zeigen? Aber dann würde er mehr wissen wollen, würde nach der Vergangenheit von Ilona Drucker fahnden, nach dem Vater von Thomas Drucker, nach seiner wahren Identität, die sie nicht verraten durfte.
Sie sah aus dem Fenster zur Sandgasse hinab. Verlassen lag die Gasse da. Kein Mensch war so früh unterwegs. Der Schnee der letzten Nacht war noch nicht geräumt. Direkt vor ihrem Hauseingang war ein fünfzackiger Stern zu sehen, den jemand mit seinen Stiefeln in die dünne Schneeschicht gezogen hatte. Der Stern stand auf dem Kopf, zeigte mit seiner Spitze genau auf ihren Hauseingang, als ob er in dieses alte Fachwerkhaus eindringen, sich in seinen knarrenden Holzbalken einnisten wollte. Du lieber Himmel, dachte Maria Beletto, den Stern habe ich gestern Abend gar nicht gesehen. Sie müssen in der Nacht da gewesen sein, müssen den Stern gezogen haben, um mir Angst einzujagen. Sie verfolgen mich und wollen mich in die Knie zwingen.
Sie stellte einen Wasserkessel auf den Herd. Ein Tee wird mich aufwärmen, dachte sie. Im Bad schaltete sie den kleinen Elektroboiler an, der immerhin fünf Liter warmes Wasser hergab. Wenn man sich schnell wusch, reichte es für den ganzen Körper. Doch sie war nicht mehr schnell. Ihre Knie schmerzten, ihre Arme bewegten sich langsam, und so war das Wasser meistens kalt, bis sie sich zur Hälfte gewaschen hatte. Duschen, ja Duschen, das hatte sie früher gekonnt. Aber jetzt hatte sie nur dieses kleine Waschbecken, in das sie ihre FüÃe nicht mehr bekam, und turnte mühsam auf ihrem Handtuch davor herum, bis sie sich notdürftig gewaschen hatte. Das Alter war schwer für sie. Man hatte nichts zu lachen. Nicht einmal Ilona würde zu ihr kommen, die sie sonst mindestens ein Mal pro Woche besucht und ihr den Rücken geschrubbt hatte. Ohne Ilona war ihr Leben noch weniger wert.
Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Schnell zog sie ihr dunkles, langes Kleid an und eilte zurück in die Küche. Sie bestrich ein Ciabatta-Brot mit Marmelade, brühte einen Schwarztee auf und setzte sich an ihren alten groben Küchentisch. Ich darf nicht aufgeben, dachte sie. Thomas braucht mich. Er ist ganz allein, hat nur noch mich. Ihm bin ich es schuldig zu leben. Vielleicht sollte ich ihm doch sagen, wer sein Vater ist â¦
Nach dem Frühstück schlüpfte Maria in ihre Winterstiefel und zog ihren schweren, langen Wintermantel über. Sie nahm ihren schwarzen Gehstock und ging langsam, Stufe für Stufe, die drei Treppen zum Erdgeschoss hinunter. Als sie auf die StraÃe trat, war weit und bereit niemand zu sehen. Ich muss diesen schrecklichen Stern verwischen, dachte sie. Langsam bewegte sie ihren rechten Stiefel über der Linie, die den Stern bildete. Hin und her, vor und zurück, wie ein Radiergummi, hin und her â¦
»Na, Signora Beletto, heute so sportlich?«
Maria Beletto erschrak beinahe zu Tode. Sie drehte sich um und sah die Inhaberin der Metzgerei von schräg gegenüber, die sie gar nicht bemerkt hatte. Im nächsten Augenblick torkelte sie, rutschte aus, ihr Stock wirbelte in die Luft und sie fiel zu Boden.
»Du liebe Güte, Signora Beletto, was machen Sie denn?« Die Metzgersfrau sprang herbei und wollte ihr helfen, doch sie war bereits der Länge nach auf den Rücken gefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Auch mit Hilfe gelang es ihr nicht.
»Mein linkes Bein will nicht mehr«, jammerte sie. »Ich kann nicht auftreten. Es will einfach nicht mehr.«
»Das wird wieder, Frau Beletto«, tröstete sie die Metzgersfrau und winkte eine ihrer Angestellten herbei.
»Los, packen Sie mit an, wir müssen sie in ihre Wohnung bringen.«
Langsam schleppten sie Maria Beletto zu ihrer Haustür und die Treppen nach oben. Die Schmerzen stiegen ihr vom Bein hinauf in die Hüfte. Höllische Schmerzen. Vor ihren Augen begannen Sterne zu tanzen, überall wirbelten diese weiÃ-roten Sterne herum. Das sind die Sterne Satans, dachte sie. Oh Gott, hilf mir, er darf keine Macht über mich erhalten â¦
8
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Die schlanken, hoch aufragenden Laternen verbreiteten
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