Blutsvermächtnis (German Edition)
herankam, dass Annalena ein Alter erreicht hatte, das sie unmöglich hatte erleben können. Sie hätte 120 sein müssen, als er London verließ.
War es sein Verhängnis, dass er aufgegeben und nicht versucht hatte, sie ausfindig zu machen? Vielleicht hätte er alle Klöster der Welt nach ihr absuchen müssen.
Vielleicht. Vielleicht hatte das den Zorn seiner Väter geschürt. Doch das Geschehen lag in jüngster Vergangenheit, es war gerade ein halbes Jahrtausend her, sein Martyrium jedoch dauerte bereits weit mehr als die zwanzigfache Zeit. Immer wieder vermischten sich die Gedanken darum, was er sich hatte zuschulden kommen lassen mit den Überlegungen, welche Fehler er begangen hatte, um jemanden auf seine Spur beziehungsweise die von Mes- tors Gebeinen kommen zu lassen. Er fand keine klaren Linien, keine Trennung, keine Antworten.
Seine Gedanken glitten weiter und weiter ins Gestern. Ein raues Knurren entrang sich seiner Kehle. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren auf der Suche nach den größten Fehlern seines Lebens. Ihm fielen viele Vergehen ein. Aber waren das nicht Kleinigkeiten in Anbetracht seiner Qualen? Konnte es eine Rolle spielen, dass er manchmal in die Geschicke der Menschheit eingegriffen hatte? Das war lange, bevor sie anfingen, eine Kultur zu entfalten. Er hatte immer versucht, ihnen die Werte und das Wissen seines Volkes nahe zu bringen, aber es hatte Ewigkeiten gedauert, bis sie den damaligen Stand der Atlantiden erreicht hatten und sich über diesen hinaus zu entwickeln begannen. Damit hatte er nichts unrechtes getan. Andererseits – wer wusste schon, ob sie ohne sein sachtes Anschubsen, ohne die Hilfe zur Herstellung erst einfacher, später komplexerer Werkzeuge den Impuls gefunden hätten, der die Entwicklung zum gesitteten Individuum und dem heutigen Stand der Menschheit gegeben hatte.
Zur Hölle, was hatte er Böses verbrochen?
Früher, als er noch über einen Teil von Atlantis herrschen durfte, hatten seine Brüder und er ausschließlich das Blut der Opfergaben ihres Volkes getrunken, meistens Stierblut, um damit ihre Jugend zu erhalten. Der Lebenssaft hatte durch den Glauben der Menschen an ihre Götter und Herrscher so viel Kraft, dass es die Blüte der Halbgötter nährte. Viel später erst, als er feststellte, dass Tierblut an Wirkung verlor, weil die Menschen den Glauben an Götter aufgaben, kostete er zum ersten Mal Menschenblut. Stellte das einen Frevel dar? Überschritt er die Grenzen der göttlichen Ordnung, indem er sich an deren Geschöpfen labte, um sein lächerliches Dasein in ewiger Frische zu erhalten?
Elia war mittlerweile so tief in seine Vergangenheit vorgedrungen, dass er sich als jungen Halbgott in seinem Himmelsthron sitzen sah. Erneut löste sich ein tonloser Schrei von seinen Lippen, der die Ohren der Menschen betäubt, ihre Körper in endloser Qual zusammengekrümmt hätte.
Isi hatte ihm mit Mestor die Erfüllung geschenkt. Das höchste Glück eines Mannes, seinen Stammhalter in die Arme schließen zu dürfen.
Und dann – jäh – brach die Erkenntnis aus ihm hinaus. Die Verdrängung des größten Fehlers seiner Existenz, den er auf sich geladen hatte. Etwas, das er niemals gesehen, niemals wahrhaben wollte. In seinem Hochmut hatte er nicht zugelassen, dass er erkannte, worin sein Vergehen lag.
Er hatte es nie sehen wollen!
Er hatte gegen den Willen der Götter verstoßen!
Er hatte sich den Zorn der Väter zugezogen, weil er sich weigerte, seiner Bestimmung zu folgen. Weil er seinen verdammten Dickschädel durchsetzen wollte. Es gab kein größeres Sakrileg als eine Zuwiderhandlung gegen die Vorhersehung der Weltenlenker.
Er hatte es begangen. Er hatte sich gegen die Pläne von Poseidon und Zeus gestellt.
Er hatte Euphrosynes Liebe verschmäht, dabei kannte er die ihm Zugedachte nicht einmal.
Er hatte Euphrosynes Herz und das seiner Mutter gebrochen und die Gesetzte des Himmels missachtet, nur, um sich seine Unabhängigkeit zu beweisen.
Purer Egoismus, maßlose Selbstüberschätzung und unbeugsame Uneinsichtigkeit eines jungen Wilden. Eines 413 Jahre alten Grünschnabels, der glaubte, seinem Vater die Stirn bieten zu müssen.
Ein Donnern grollte in der Ferne.
Wie lange verweilte er bereits hier?
Elia legte erneut die Hände gegen die Felswand zur Grabkammer. Ein süßes Sehnen öffnete sein Herz. Er hieß es willkommen, weitete das Fensterchen zum Scheunentor.
Mit einem Kuss verabschiedete er sich von der Kälte der Kammer und kehrte mit
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