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Blutsverwandte: Thriller (German Edition)

Blutsverwandte: Thriller (German Edition)

Titel: Blutsverwandte: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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hatte sie sich einen Ausdruck für diese Erlebnisse ausgedacht: eine Andenkung. Bestimmt würde Mom schimpfen, wenn sie hörte, dass Carrie Wörter erfand, die es nicht gab, aber Mom musste ja nicht alles von ihr wissen. Mom würde sagen, es gab Erinnerungen, und Schluss. Doch für Carries Gefühl waren es nicht direkt Erinnerungen. Es waren eher Ansätze zu Erinnerungen. Eines Tages würde sie sich an mehr erinnern, und dann wären es richtige Erinnerungen, nicht nur schwammige Eindrücke.
    Als sie diese Andenkungen zum ersten Mal gehabt hatte, war sie erschrocken und aufgewühlt gewesen und – aus Gründen, die sie nicht auf Anhieb erklären konnte – traurig. Sie wusste, dass sie adoptiert war – das waren sie alle -, doch Mom und Dad hatten gesagt, sie sei als Baby adoptiert worden, nicht als Dreijährige wie Genie und die Jungen. Doch wie konnte sich ein Baby an ein Lied erinnern?
    Wie Dad immer sagte, war sie ein vernünftiges Mädchen, und so legte sich ihre Bestürzung bald wieder. Sie kam zu verschiedenen Schlussfolgerungen. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern sie angelogen. Sie konnte kein Baby mehr gewesen sein, als sie adoptiert worden war, sondern war sicher schon älter gewesen. Ein bisschen sah sie Mom ähnlich – wahrscheinlich hatten sie sie deshalb ausgewählt. Später hatten sie darauf keinen Wert mehr gelegt, denn Genie und die Jungen sahen ihren Adoptiveltern überhaupt nicht ähnlich. Sie wollten ihr nur den Kummer darüber ersparen, dass ihre richtigen Eltern sie hatten kennenlernen können, ehe sie zu dem Schluss kamen, dass sie sie nicht mehr haben wollten.
    Sie hatte miterlebt, wie die Jungen geweint hatten, als sie neu hierhergekommen waren, einer nach dem anderen. Und sie hatte gesehen, wie wunderbar geduldig und nett Mom und Dad gewesen waren. Jetzt, zwei Jahre, nachdem Aaron, der Jüngste, ins Haus gekommen war, schien er sich nicht mehr daran zu erinnern, dass er früher einmal zu einer anderen Familie gehört hatte. Weder schrie er nach seinen toten Eltern, noch versuchte er sich einen anderen Namen für sich auszudenken.
    Mom und Dad sagten, dass Carries Eltern kurz nach ihrer Geburt gestorben seien. Doch sie war überzeugt davon, dass das eine Lüge war.
    Es betrübte sie, dass ihre Adoptiveltern gelogen hatten, selbst wenn es eine fromme Lüge war. Mittlerweile war sie alt genug, um zu wissen, dass jeder log, aber gefallen musste einem das trotzdem nicht. Sie war ja selbst auch eine Art Lügnerin, weil sie Geheimnisse hatte, und wenn ihre Mutter fragte, woran sie dachte, antwortete sie auch nicht immer wahrheitsgemäß.
    Carrie hätte sich gern nach ihren leiblichen Eltern erkundigt, doch sie musste sich eingestehen, dass ihr das Angst einjagte. Was, wenn sie Mom und Dad mit der Frage kränkte? Was, wenn die beiden zu dem Schluss kamen, dass es ihnen zu anstrengend war, sie zu behalten? Sie war glücklich hier, und sie liebte ihre Familie. Was sollte es nützen, Fragen zu stellen, vor allem, wenn ihr die Antworten womöglich nicht behagten?
    Sie lehnte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und schloss die Augen. Die Stimme des Mannes aus ihrer Andenkung kam ihr erneut in den Sinn, und sie merkte, dass sie gern an ihn dachte. Mehrfach hatte sie in Tagträumen diesen Vater gesehen, der sie nicht hatte hergeben wollen, und eine böse Mutter, die darauf bestand. Die böse Mutter sperrte sie abwechselnd in einen Schrank, steckte sie in den Kofferraum oder verkaufte sie an Fremde.
    Nie sah sie ein inneres Bild oder auch nur eine Andenkung an ihre leibliche Mutter vor ihrem geistigen Auge. Nur ihren Vater. Sie hatte einen weiteren Tagtraum, in dem ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben war und dann ihr Vater einen schrecklichen Unfall hatte, bei dem er sich am Kopf verletzte und sein Gedächtnis verlor und nicht mehr nach Hause kam, woraufhin sie zur Adoption freigegeben wurde.
    Zu diesem Teil der Geschichte hatte sie ein Taschenbuch angeregt, das sie in einer Kiste auf dem Dachboden gefunden hatte. Es hieß Emily and the Stranger , und darin fällt ein Graf vom Pferd, schlägt sich den Kopf an und verliert sein Gedächtnis. Eine Frau, die allein im Wald lebt, findet ihn, pflegt ihn und heiratet ihn, bis sie entführt wird und er sich erneut den Kopf anschlägt und sich wieder an alles erinnert, worauf sie erfahren, dass Emily gar kein armes Mädchen ist. Mom wusste nicht, dass sie das Buch in ihrem Zimmer versteckt und noch viele andere erstaunliche Dinge daraus gelernt hatte.

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