Bluttaufe: Thriller
über das Opfer war, das sich in Panik, Angst und Entsetzen gewunden hatte.
Und sofort rutschte dieses Lächeln wieder ab in eine emotionslose, ja, zuweilen beflissene Mimik, mit der sie ihre Bereitschaft zur Mithilfe bei der Durchleuchtung der finstersten Ecken ihrer Persönlichkeit signalisierten.
Nur mithilfe der Aufnahmen konnte sie sich diesen Widerschein des Kicks, der für sie zu einem Moment einer wie auch immer gearteten perversen Befreiung geführt hatte, genau betrachten. Der Augenblick, wenn sie die Panik körperlich spürten, wenn sie die Klinge ansetzten oder die Schlinge um den Hals ihres Opfers legten.
Sie hatte immer Abstand gehalten. Die Tatortbeschreibungen, Analysen und vor allem die Persönlichkeitsstrukturen der Täter, so wenig es mit Händen zu greifen war, es handelte sich doch um etwas Konkretes, mit dem man arbeiten konnte.
Zahlreiche Täter veränderten im Laufe ihrer Serie ihre Raster. Sicher, auch hinter »Schneeweißchen«, wie ihn die Zeitungen jetzt nannten, steckte nur eine Verletzung aus der Kindheit oder eine schwere Psychose, die er sich zugezogen hatte und die im Genuss seiner Macht beim Töten gipfelte. Doch ihr fiel immer schwerer, genau das im Auge zu behalten.
Handelte es sich tatsächlich um einen Savant, dann hatten sie es mit einer Geisteswelt zu tun, die noch nie ein »normaler« Mensch betreten hatte.
Man wusste, dass bestimmte Hirnbahnen gekappt und andere dafür in der Lage waren, Momenteindrücke in einem fotografischen Gedächtnis zu speichern.
Heute waren mehr als fünfzig der hundert bekannten Savants Autisten. Das Rätsel, das sich dahinter verbarg, war letztlich das Rätsel des Gehirns. Trotz aller Fortschritte der Neurobiologie wusste man immer noch nicht, wie es eigentlich funktionierte und wozu es fähig war. Auch für die Neigung einiger Savants zu allem Bizarren gab es keine Erklärung.
Meist verhinderten Familienangehörige, dass Savants
sich damit allzu sehr hervortaten. Gefragt waren nette Savants, die nach einer Demonstration ihrer Fähigkeiten freundlich mit Schulklassen scherzten und sich abmühten, so etwas wie Freude für die Begeisterung der anderen zu empfinden.
Dabei verstanden selbst ›normale‹ Autisten, wenn es die überhaupt gab, die Gefühle der Menschen in ihrer Umgebung nicht.
Die Hirne der Savants wollten beschäftigt werden. Eine Bewertung dessen, was sie da an ungeheuren Wissensmengen anhäuften, fand nicht statt.
Der Savant, mit dem sie es zu tun hatten, rief die Details der Serienmorde wie einen Film ab und stellte sie am Tatort nach. Ein Fehler war nicht zu erwarten. Emotionen, Angst, eine kritische Bewertung … all das war ausgeschaltet. So wie man die Wohnzimmerbeleuchtung ausschaltete.
Kaja Winterstein fröstelte. Sollten sie ihn eines Tages finden, er würde das Böse, dass er angerichtet hatte, nicht einmal empfinden.
Sie erwartete ein offenes, ja neugieriges Gesicht. Vielleicht war es sogar freundlich. In dem Rahmen freundlich, wie jemand freundlich sein konnte, der das »Freundlichsein« erkundet hatte und es nun imitierte.
Auf ihrem Bildschirm flimmerte eine Nachricht von ihrer Tochter auf. Sie teilte mit, dass sie heute Abend »auf sicher« zu Hause sei und ob sie über ihren Sprachurlaub reden könnten. Sie hätte ernste Schwierigkeiten, aber solch ein Sprachunterricht wäre »ne echte Chance«. Unter ihren Namen hatte sie geschrieben: »Mama, wo bist du überhaupt?«
Kaja Winterstein klickte auf »Antworten«, tippte »Arbeiten!
« ein und schickte die Mail ohne jeden weiteren Kommentar ab.
Hinter ihr klopfte jemand an den Rahmen der offenen Tür.
»Carlos Wenger, ich bin der Computerfreak«, sagte der vielleicht dreißigjährige Mann in weitem Jackett. Seine hohe Stirn war von drei tiefen Falten durchfurcht, er sah übermüdet aus.
Er hat die Finger eines Babys, dachte sie.
»Ich müsste noch mal an die Rechner.«
»Sie wollen mich aus dem Netz kippen?«
»Nur für eine Viertelstunde, ich muss die Virensoftware aktualisieren und das Netzwerk warten.«
»Hängen wir nicht alle in einem großen Netz«, sagte Kaja Winterstein mit gespielt ernstem Gesichtsausdruck.
»Klar, und wir warten unser ganzes Leben auf die Spinne, die doch unser Zappeln endlich bemerken müsste.«
Der Mann lächelte sie an und sagte:
»Abgebrochenes Philosophiestudium.«
»Haben Sie so etwas wie einen Auftrag?«
Der Mann fingerte ein zusammengefaltetes Blatt aus der Brusttasche, suchte die richtige Spalte und sagte:
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