Bluttaufe: Thriller
Fleisch.
Monatelang hatte er ihn in der Gegend herumgescheucht, damit er lernte, mit wachem Reporterblick auf das Geschehen und die beteiligten Personen zu blicken. Sich einzufühlen, ihre Sprache aufzunehmen, das Besondere zu suchen. Das Haar in der Suppe.
Auch dieser Tannen fühlte sich an seinem Schreibtisch
am wohlsten. Doch was half’s, er war von seinem Freund Mangold nicht engagiert worden, um die Kriminalistenausbildung zu übernehmen.
Woher Mangolds Vertrauen in seine Fähigkeiten rührte, war ihm ein Rätsel. Einmal hatte er gesagt, er brauche jemanden, der nicht professionell dachte. Einen Anfänger. Mit Anfängerblick.
Sehr zaghaft hatte diese Freundschaft begonnen. Mit einer Tasse Tee, die ihm Mangold runter ins Polizeiarchiv gebracht hatte. Sie hatten ausgiebig über seine Arbeit gesprochen, die er da unten im Unterleib des Präsidiums im modrigen Keller erledigte. »Die Verstrickung der Hamburger Polizei in den Machtapparat der Nationalsozialisten« sollte er anhand des Aktenstudiums aufdecken. »Ein Stück notwendiger und bisher vernachlässigter Vergangenheitsbewältigung«, hatte es der Polizeipräsident auf einer Pressekonferenz genannt. Nach den Erlebnissen in Bosnien und Darfur war das für ihn eine willkommene Arbeit. Keine miesen Hotelzimmer, keine Heckenschützen, kein Aufschrecken, wenn nachts das Telefon klingelte. Keine Milizionäre und betrunkenen Soldaten, keine zerschossenen Körper am Straßenrand.
Doch die schrecklichen Bilder in seinem Kopf wurden nur von neuen schrecklichen Bildern abgelöst.
Volle drei Monate hatte er wie ein Maulwurf in den Kellerräumen mit den Akten verbracht, bevor er sich an einen groben Überblick über die Verbrechen der Hamburger Polizei machen konnte. Es hätte Jahre gebraucht, um die Materialien gründlich auf willkürliche Verhaftungen, frühzeitige Verfolgung jüdischer Mitbürger und die systematische Verfolgung politisch Andersdenkender hin zu untersuchen.
Allein die exemplarischen Fälle, die er im Keller recherchiert hatte, machten deutlich, dass die Polizei nicht nur ein Hilfsapparat der Nazis gewesen war. Dort hatte es rege Eigeninitiative und perfide Ideen gegeben, wenn es darum ging, in vorauseilendem Gehorsam der Gestapo sensationelle Vorschläge für eine effektive Verfolgung von politisch Andersdenkenden zu machen oder die Suche nach versteckten Juden zu verfeinern.
Zu Mangold hatte sich im Laufe dieser Recherchezeit eine Freundschaft entwickelt. Sie konnten auch über die Bilder sprechen, die ihnen im Kopf herumspukten. Hensen lachte in sich hinein. Eine geradezu blutgetränkte Freundschaft.
»Könnte natürlich auch die Bremer Reihe gemeint sein«, sagte Tannen. »Liegt direkt am Hauptbahnhof.«
»Hausnummer 1 c 4?«
»Gibt es nicht, ich hab das überprüft.«
Hensen nickte und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu. Sein Handy klingelte.
»Mangold hier, Kaja Winterstein hat das Gebiss identifiziert. Halt dich fest.«
»Ich sitze«, sagte Hensen. »Du hörst dich nicht an, als wärst du zu einer Verhaftung unterwegs. Eine Niete?«
»Ein Volltreffer. Kaja Winterstein hat ein wundervolles Programm entdeckt. Genau kann ich es dir nicht erklären. Soweit ich es verstanden habe, wird die Pixelverteilung eines Bildes in eine Formel gegossen und dann mit Bildern, die im Netz kursieren, abgeglichen.«
»Dazu müsste der Bildausschnitt gleich sein.«
»Diese Gebissfotografien werden standardisiert gespeichert. Auch unsere Gerichtsmediziner haben nach der Rekonstruktion solch eine Zahnstatus-Röntgenaufnahme
gemacht, damit wir sie überhaupt mit dem Datenmaterial der Zahnärzte abgleichen können. Ein Verfahren, das sehr breit bei der Identifizierung von Tsunami-Opfern eingesetzt wurde. Wir haben einen Treffer.«
»Nun mach es nicht so spannend.«
»Der Mann vom Hauslabjoch.«
»Wer um Himmels willen soll das sein? Ein Kerl aus dem Musikantenstadl?«
»Durch eine Pfeilverletzung gestorben. Du kennst ihn unter dem Namen Ötzi.«
»Die Gletschermumie?«
»Genau die. Vor 5300 Jahren getötet und dann tiefgefroren. Natürlich haben die Forscher seine Gebissstruktur ins Internet gestellt.«
»Unser Killer ist ein Witzbold.«
»Ein wenig verrät uns dieser Witz doch über den Täter.«
»Er muss ein genialer Handwerker sein«, sagte Hensen.
»Der Mann hat aufgrund der Röntgenbilder ein Gebiss gefertigt und damit Charles Annand verunstaltet. Eine komplizierte Angelegenheit, kaum denkbar, dass er noch nie etwas mit Zahntechnik zu
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