Blutträume
ruhig.
Sie nickte unwillkürlich. »Wegen des einen Tatorts, den wir haben. Ist mir aufgefallen, als ich die Draufsichtfotos sah, die Marcs Spurensicherungsteam gemacht hat. Der Ort war sorgfältig ausgewählt, und nicht nur, weil er abgelegen war. Das Gelände war bestens geeignet für die Gestaltung seiner … Kunst. Er hat uns ein Bild hinterlassen und selbst eins aufgenommen, darauf wette ich.«
»Dann würde ich es mehr als eine Vermutung nennen«, sagte Bishop. »Er fotografiert also nicht nur die Orte, an denen er tötet, sondern auch seine potenziellen Opfer, während er sie verfolgt. Das, plus die Halskette und das Armband, die er so auffallend sichtbar hinterlassen hat – all das sind radikale Abweichungen von seiner bisherigen Vorgehensweise. Er hinterlässt Spuren von sich selbst, vielleicht sogar eine ganze Spurenfolge. Wenn du dann noch hinzurechnest, dass wir uns jetzt praktisch sicher sind, es mit einem paragnostischen Verstand von unbekannter Fähigkeit zu tun zu haben …«
»Sind wir am Arsch?«, beendete sie ironisch.
»Du musst vorsichtig sein, Hollis. Ihr alle, aber vor allem du, Dani und Paris. Denn wenn das Bedürfnis, andere in Angst und Schrecken zu versetzen, der Geisteskrankheit dieses Bastards zugrunde liegt – und das wenige, was wir wissen, deutet darauf hin –, könnte die Kontaktaufnahme mit Dani ihn lehren, dass er ein neues Werkzeug besitzt. Eine neue Waffe. Ihm könnte es nicht mehr um ein bestimmtes Aussehen gehen, jetzt nicht mehr.«
»Ich bin kein Profiler, und selbst ich weiß, dass das ein Riesensprung in der Entwicklung eines Serienmörders wäre.«
»Das muss keine Entwicklung sein«, sagte Bishop. »Er könnte … zerfallen. Die bestehende Persönlichkeitsmatrix könnte sich auflösen.«
»Großer Gott. Ich wusste nicht, dass so was möglich ist.«
»Mit dem richtigen psychologischen Auslöser ist fast alles möglich.«
»Und der richtige psychologische Auslöser wäre in diesem Fall …?«
»Keine Ahnung.«
Hollis seufzte. »Hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber mir wäre eine deiner rätselhafteren Antworten lieber gewesen. Wenigstens könnte ich mich dann an die Illusion klammern, dass irgendjemand weiß, was da vorgeht.«
»Tut mir leid, dich zu enttäuschen.« Bishop seufzte. »Sei einfach vorsichtig, Hollis. Ich schicke dir das überarbeitete Profil so schnell wie möglich. Aber schotte dich bis dahin nicht gegen das ab, was die Toten dir zu erzählen haben. Jede Spur, die er hinterlässt, ob zufällig oder absichtlich, könnte uns irgendwo hinführen – oder nirgendwo. Bei Serienmorden trifft es fast immer zu, dass die Opfer uns die besten Hinweise liefern, den Mörder zu finden.«
Nach all dem, plus dem Tag, den sie hinter sich hatte, rechnete Hollis wirklich nicht damit, gut zu schlafen. Und so war es auch. Sie wälzte sich herum und wachte mehrfach auf, um auf die Uhr zu schauen. Und sich zu vergewissern, dass die Zimmertür abgeschlossen war.
Gegen drei fiel sie endlich in einen erschöpften Schlaf dieser schweren Art, die einen tiefer hinabzog als Träume. Und als sie daraus erwachte, geschah das so plötzlich, dass sie zuerst nur das rasende Klopfen ihres Herzens spürte.
Sekunden später wusste sie, dass sie nicht allein war.
Sie hatte das Licht hinter der halb geschlossenen Badezimmertür brennen lassen, und die Helligkeit reichte aus, eine Gestalt am Fußende des Bettes zu erkennen.
Ihre Waffe lag in der Nachttischschublade, doch statt danach zu greifen, streckte Hollis die Hand nach der Lampe aus, ohne den Blick von der verschwommenen Gestalt zu wenden.
»Er weiß, wer du bist.«
Hollis erstarrte, die Hand am Lampenschalter. Schauer liefen ihr über den Rücken. In der Hoffnung, nichts zu sehen, sich diese lapidare Aussage nur eingebildet zu haben, knipste sie schließlich das Licht an.
»Er weiß, wer du bist«, wiederholte Shirley Arledge. Ihr Gesicht war reglos, die Augen angsterfüllt. »Er weiß, was du bist.«
Sie verblasste bereits.
»Warte«, sagte Hollis rasch, bemüht, ihre Stimme zu kontrollieren, sanft zu sprechen. »Wer ist er? Wie können wir ihn finden, ihn aufhalten?«
Shirley Arledge schüttelte den Kopf, und ihre Stimme verklang, noch während sie so etwas hauchte wie: »Er trickst euch aus …«
Hollis setzte sich langsam auf und starrte dorthin, wo der Geist der jungen Frau gestanden hatte. Dann drehte sie behutsam den Kopf und überprüfte das gesamte Motelzimmer: sehr gewöhnlich, wenig
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