Blutvertrag
üblichen Hurensöhne freie Bahn haben, oder?«
»Die werden immer freie Bahn haben«, sagte Tim.
»Na schön, meistens schon. Aber ab und zu müssen sie sehen, wie einer von ihnen scheitert, damit sie wenigstens einen Moment lang darüber nachdenken, ob es nicht doch eine höhere Macht gibt.«
»Das hab ich irgendwann schon mal gehört.«
»Du hast es selbst irgendwann mal gesagt.«
»Tja, mir selbst will ich natürlich nicht widersprechen. Also, dann ruhen wir uns mal ein wenig aus.«
»Vielleicht kannst du mir morgen endlich sagen, worum es geht.«
»Vielleicht«, sagte Tim und legte auf.
Linda hatte sich wieder auf dem Bett ausgestreckt. Ihr Kopf lag auf dem Kissen, ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände ruhten auf ihrem Unterbauch. »Poesie.«
»Was für Poesie?« Als sie nicht antwortete, sagte er: »Das, was in deiner Vergangenheit geschehen ist, was dich dazu gebracht hat, schwärende Bücher zu schreiben …«
»Bücher von schwärendem Kummer.«
»Was immer es war – bist du dir absolut sicher, dass es nichts mit dieser Sache jetzt zu tun hat?«
»Ganz sicher. Ich hab es aus einem Dutzend Perspektiven betrachtet.«
»Betrachte es auch noch aus der dreizehnten.«
Er nahm die Pistole aus der Handtasche, die auf dem Nachttisch lag, und platzierte sie in Reichweite.
Ohne die Augen zu öffnen, fragte Linda: »Werden wir hier sterben?«
Er sagte: »Wir werden versuchen, es nicht zu tun.«
19
Das Hotelzimmer im zweiten Stock fühlte sich allmählich an wie einer jener Canyons in alten Westernfilmen, die eine Falle darstellen. Da nur eine einzige Tür vorhanden war, gab es auch nur einen Ausweg, wenn die falschen Leute auftauchten: mitten durch sie hindurch.
Ein durchschnittlicher Lohnkiller – falls es so etwas überhaupt gab – versuchte wahrscheinlich nicht, ausgerechnet in einem Hotel zuzuschlagen. Er zog es sicher vor, sein Opfer auf der Straße abzuknallen, wo ihm mehr Fluchtwege offen standen.
Wenn Tim sich allerdings an den unersättlichen Hunger erinnerte, den er in der schwarzen Leere der Augen des Killers gesehen hatte, ahnte er, dass an diesem Kerl nichts durchschnittlich war. Kravet kannte keine Grenzen. Ihm war alles zuzutrauen.
Noch immer aufrecht auf dem Bett sitzend, musterte Tim Linda, die mit geschlossenen Augen dalag. Er betrachtete sie gerne, besonders, wenn er nicht von ihrem scharfen Blick seziert wurde.
Er hatte schon viele Frauen gesehen, die schöner waren als sie. Eine, die er lieber betrachtet hätte, hatte er jedoch noch nie gesehen.
Wieso das so war, wusste er nicht. Er versuchte erst gar nicht, es zu analysieren. Heutzutage verbrachten die meisten Leute zu viel Zeit mit dem Versuch, ihre Gefühle zu begreifen – und hatten dann keine mehr übrig, die echt waren.
Obwohl ein Hotelzimmer im zweiten Stock womöglich eher eine Falle als ein sicheres Versteck darstellte, fiel ihm kein anderer Ort ein, der mehr Schutz geboten hätte. Momentan bestand die Welt ausschließlich aus Canyons, die keinen zweiten Ausgang boten.
Der Instinkt sagte ihm, dass sie umso sicherer waren, je mehr sie in Bewegung blieben. Aber sie brauchten Ruhe. Wenn sie sich jetzt wieder in den Wagen setzten, konnten sie nirgendwo anders hinfahren als auf die totale Erschöpfung zu.
So leise wie möglich rutschte er vom Bett. Eine ganze Minute stand er einfach nur da und blickte auf Linda herab, dann flüsterte er: »Schläfst du?«
»Nein«, erwiderte sie flüsternd. »Und du?«
»Ich gehe nur zwei Minuten raus auf den Flur.«
»Wozu?«
»Um mich umzuschauen.«
»Weshalb?«
»Ich weiß nicht recht. Die Pistole liegt hier auf dem Nachttisch. «
»Ich erschieße dich schon nicht, wenn du wiederkommst.«
»Das hatte ich gehofft.«
Er verließ das Zimmer und zog hinter sich behutsam die Tür zu. Dann legte er die Hand an den Knauf, um sich zu vergewissern, dass das Schloss eingeschnappt war.
An beiden Enden des Flurs leuchteten rote Schilder mit den Lettern AUSGANG. Die Aufzüge befanden sich am linken Ende.
Links von ihm gingen auf derselben Seite des Flurs sechs Zimmer ab. Am Knauf von vier Türen hingen Schilder mit der Aufschrift BITTE NICHT STÖREN.
Rechts kamen vier Zimmer. Nur an den nächsten beiden waren Schilder zu sehen.
Die Tür zur Treppe am rechten Ende gab ein feines Quietschen von sich, als er sie aufdrückte. Auf dem Absatz stehend,
lauschte er auf das Murmeln des Meeres in den Windungen des Treppenhauses, hörte jedoch nur Stille.
Er ging die beiden Treppen
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